Philosophische
Gedanken und die Psychoanalyse
Ein
Essay von Walter Melvin Pollak
„Irrtümer
bildeten schließlich meist die
Fundamente der Wahrheit, und wenn
man von einem Ding nicht weiß, was
es ist, dann bedeutet es schon einen
Erkenntniszuwachs, wenn man weiß,
was es nicht ist.“ (C. G. Jung,
Schluss-Satz von „Aion“)
Vorwort
Es
haben sich schon einige den Kopf darüber
zerbrochen, welche Beziehung es gäbe
zwischen der Philosophie, der Liebe
zur Weisheit, und der Psychologie
oder Psychoanalyse. Die Psychologie
war lange als die Lehre von der
Seele ein Teilbereich der
Philosophie, und in der Schweiz
schloss ich mein Studium seinerzeit
nicht als Dipl.-Psychologe ab,
sondern als lic. phil. Und tatsächlich
hatte ich vor Beginn des
Psychologiestudiums auch eine
Zeitlang Philosophie studiert, so
dass mein Interesse an diesem Fach
geweckt worden war. Die
„Geisteswissenschaften“
unterscheiden sich von den
„Naturwissenschaften“, und der
menschliche Geist, seine Psyche,
sein Denken werden, je nach Ansatz,
mit ganz anderen Methoden und
Fragestellungen erforscht. Als
„praktischer Psychologe“, als
Psychotherapeut steht man zwischen
diesen Welten. Die
„Daseinsanalyse“ zeigt, wie
Psychotherapeuten auch theoretische
Grundlagen zu schaffen versuchten,
um das Philosophische mit dem
Psychologischen zu verbinden. Will
man den Menschen ganzheitlich
verstehen, so muss man auch dessen
existenzielle Dimension berücksichtigen
und ihn nicht nur als Gestörten mit
einer bestimmten Symptomatik
behandeln. Es geht um die Sinnfrage,
um die Endlichkeit, um die Kriterien
eines erfüllten Lebens, um
Anpassung und Eigenständigkeit, um
Zwang und Freiheit. Natürlich kann
der streng naturwissenschaftlich
orientierte Fachmann darauf
beharren, nur beweisbare oder
falsifizierbare Erkenntnisse (Karl
Popper) zu berücksichtigen, und
alles rein Spekulative und
„Transzendente“ beiseite zu
lassen. Er wird deshalb vermutlich
dem Ansatz von C. G. Jung als
„unwissenschaftlich“ und
„esoterisch“ mit Misstrauen
begegnen und sich gar nicht weiter
damit befassen. Und genau da liegt
der Fehler von vielen modernen
Wissenschaftsgläubigen. Man schüttet
das Kind mit dem Bade aus! Natürlich
wird man die Tiefenwirkung von
Mythen, Märchen und Symbolen auf
den Menschen nur bedingt
experimentell überprüfen können.
Eine psychoanalytische Traumdeutung
wird immer nur hypothetisch sein.
Der „Freudianer“ wird ganz
anders herangehen als ein
„Jungianer“. Alexander
Mitscherlich
deutete den Ouroboros-Traum des
Chemikers August Kekulé als Hinweis
auf einen sexuellen Notstand. Der
Ouroboros ist aber ein
archetypisches Symbol der
Integration und Assimilation des
Gegensatzes, des Schattens. Zudem
symbolisiert er die ständige
Selbsterneuerung und das Eine, die Ursprungseinheit, das Enthaltensein im „Großen Runden".
Hinzu kommt die symbolische und
archetypische Bedeutung der
Schlange, die einerseits als
Baum-Numen mit dem Chthonischen und
Erdhaft-Mütterlichen verbunden ist,
als erhöhte Schlange darüber
hinaus auch ein Heilssymbol
darstellt. Für den Wissenschaftler
Kekulé war nur der Aspekt des
„hilfreichen Tieres“ von
Bedeutung, das ihm aus dem
Unbewussten die bahnbrechende
Erkenntnis von der ringförmigen
Struktur des Benzols zukommen ließ,
wobei man berücksichtigen muss,
dass der Ouroboros damals eine gängige
Vorstellung war. Nicht schlecht,
wird man sagen, aber muss man sich
darauf beschränken? Hat das
Unbewusste nicht noch wichtigere
Hinweise parat, die es zu ergründen
gilt? Dafür „im Trüben zu
fischen“ lohnt sich, denn es
befinden sich dort Schätze, die zu
heben sind. Nicht umsonst findet der
Drachenkampf meist statt, um einen
wertvollen Schatz zu erobern,
symbolisch die Individuation, oder
um die Prinzessin zu befreien,
symbolisch die Anima, also das
personifizierte Unbewusste.
Interessanterweise wendet sich die
moderne psychologische Forschung
wieder dem Unbewussten zu, was man
sehr schön in dem Buch „Vor dem
Denken“ des Sozialpsychologen John
Bargh (2017)
erkennen kann. Die Einstellung eines
John B. Watson und noch stärker
eines Burrhus F. Skinner, wonach das
Unbewusste gar nicht existiere, weil
man es nicht sehen kann, erinnere
ihn an das kleine Kind, das
Verstecken spiele, indem es sich die
Augen zuhält. Ein Traum hatte ihm
die Augen geöffnet hinsichtlich der
Bedeutung des Unbewussten und dessen
Ursprünglichkeit. Und der
renommierte Biologe Edward O. Wilson
schreibt: „Die Wissenschaft
beginnt gerade erst mit der
Erforschung der neuronalen Bahnen
und der hormonalen Steuerung des
Unbewussten, die unser Fühlen,
Denken und Entscheiden wesentlich
beeinflussen.“
Als Praktiker
sollte man keine Angst davor haben,
wissenschaftliche „Standards“ zu
relativieren und sich darüber
hinweg zu setzen. Auch einseitige
methodische Engstirnigkeiten sollten
überwunden werden, im Interesse des
leidenden Menschen. Das bedeutet
auch, eigene Vorstellungen und
Denkgewohnheiten ständig
selbstkritisch zu hinterfragen und
zu überdenken. Auch angeblich
„gesicherte“ wissenschaftliche
Erkenntnisse haben sich schon allzu
oft als überholt herausgestellt,
und so ist ein gewisses Misstrauen
diesbezüglich sehr zu empfehlen.
Ausgehend von
den philosophischen Gedanken werden
in der Folge auch wichtige
Themenbereiche angerissen, als
Erstes der Eros. Liebe und Sexualität
gehören zu den wirkmächtigsten
Motiven und sind die Ursache von höchstem
Glück, aber auch von
schrecklichstem Leid. Der
Narzissmus und dessen Störungen
beschäftigten mich in den letzten
Jahren besonders, aufgrund der
schicksalhaften Begegnung mit
Menschen, die eine narzisstische
Persönlichkeitsstörung
beziehungsunfähig und hasserfüllt
gemacht hatte, und deren
narzisstische Wut zerstörerische
Auswirkungen hatte. Die Schuldfähigkeit
und der freie Wille berühren
Fragen, die von äußerster
Komplexität sind und absolut keine
einfachen Antworten dulden. Da halte
ich es gerne mit Kant:
„Der Mensch ist frei und dagegen:
es gibt keine Freiheit, alles ist
naturgesetzliche Notwendigkeit.“
Und mit Benjamin Libet
(2005), der den Romancier Isaac
Bashevis Singer zitiert: “Das größte
Geschenk der Menschheit ist die
freie Wahl.“ Und zuletzt geht es
um die Kastrationsangst sowie die
Angst vor Zerstückelung. Es werden
unterschiedliche theoretische
Annahmen vorgestellt, und im letzten
Kapitel geht es auch um Träume und
das Unbewusste, um die persönliche
Weiterentwicklung und die
Individuation.
1. Philosophische Gedanken und
die Psychoanalyse
Bei der Lektüre
eines Buches über die großen
Fragen der Philosophie von Rudolf
Eucken
aus dem Jahre 1919
kann man deutlich erkennen,
wie zeitlos und "zeitüberlegen"
die ideologiefreie
Geisteswissenschaft ist, denn Ähnliches
hätte genauso auch ein zeitgenössischer
Denker schreiben können. Aufhorchen
ließen insbesondere die Ausführungen
über den Einfluss des christlichen
Denkens auf unser Leben und unsere
Kultur. "Es erscheint eine
Spaltung, deren Überwindung zur
Aufgabe aller Aufgaben wird. Dass so
dem Menschen sein eigenes Wesen zum
Hauptproblem wird, das muss sein
Leben wesentlich zurückverlegen und
es vor allem mit sich selbst
befassen lassen." Gemeint ist
die Spaltung zwischen der
Innerlichkeit und der Sinnlichkeit,
da letztere ganz in den Dienst und
unter das Primat der ersteren
gestellt wird, aber daraus
erwachsend vor allem der Gegensatz
zwischen Gutem und Bösem. "Die
Wurzel des Übels ist nicht ein
Mangel an geistigem Vermögen,
sondern die moralische Schuld"
und weiter: "Ein Leben aus
freier Tat hebt sich über allen bloßen
Naturprozess hinaus, es beginnt ein
Kampf zwischen Freiheit und
Schicksal." Man könnte auch
„Innerlichkeit“ durch die
introversive Denkfunktion sowie eine
gewisse Vertiefung, Vergeistigung
(Spiritualität), entsprechend dem
Logos-Prinzip oder (neuplatonisch)
dem „Nous“, und
„Sinnlichkeit“ durch das
extravertierte Fühlen und Empfinden
(„sensation seeking“) sowie eine
Beigabe von „Voluptas“ oder dem
Eros-Prinzip (dem „Sensus“)
ersetzen. Diese Überlegungen können
jedenfalls sehr gut in Verbindung
gebracht werden mit
psychoanalytischen Theorien,
insbesondere im Hinblick auf
innerseelische Spaltungen und
Spannungen, die ja meist zu tun
haben mit Konflikten zwischen
Triebanforderungen einerseits und
hemmenden, regulierenden Instanzen
andererseits. Darüber hinaus geht
es um die unterschiedlichen
psychologischen Typen: die einen
sind mehr auf das Subjekt bezogen,
auf das eigene Ich (Introversion),
womit wir bei der
„Innerlichkeit“ wären, die
andern mehr auf das Objekt und die
Beziehungen mit der Außenwelt
(Extraversion), entsprechend der
„Sinnlichkeit“. Nietzsche
schrieb vom Gegensatz zwischen dem
Apollinischen und dem Dionysischen.
Das christliche Weltbild hat in
mancher Hinsicht wohl eine prägende
Rolle gespielt. Unbewusste
innerpsychische Konflikte hat es
allerdings schon immer gegeben, wie
auch die dabei beteiligten
Grundthemen: Autonomie, Dominanz und
Unterwerfung, Nähe und Distanz,
Aggressivität, Sexualität. Gemäß
dem Verständnis der Analytischen
Tiefenpsychologie im Sinne von C. G.
Jung läge die Spaltung zwischen dem
Instinkt- und Naturhaften,
Unbewussten und dem höheren
Geistigen, Bewussten, wobei
letzteres in unserer Zeit überbewertet
wird, wie auch das konkrete,
empirische Denken. In
„Psychologische Typen“ (2011)
schreibt Jung etwa von der
„christlichen Zerreißung des
Menschen in ein wertvolles und ein
verworfenes Stück“.
So wurde auch das höhere Männliche,
Solare, das Logos-Prinzip,
hinsichtlich des unteren Weiblichen,
Lunaren, des Eros-Prinzips, als überlegen
angesehen, und gleichzeitig wurden
das Bewusstsein und die Ratio im
Verhältnis zum Unbewussten und zur
Intuition überhöht. Der
Konkretismus mit seiner Überbewertung
des empirisch Beobachtbaren und
Messbaren habe zu einer
„Spezialistenmythologie“ geführt,
welche den Tod der Universalität
bedeute. An anderer Stelle weist er
darauf hin, dass schon der
hellenistische Synkretismus den
Anfang gesetzt hatte mit der
Unterscheidung zwischen dem
Stofflichen, der Hyle, der Seele
(Psyche) und dem Geist (Pneuma),
verbunden mit einer Akzentuierung
des Seelisch-Geistigen, wodurch
dieses von der naturhaften Körperlichkeit
abgetrennt wurde. Positiv daran war
die Entwicklung einer bewussten
Verantwortlichkeit und letztlich des
wissenschaftlichen Denkens und
Forschens, wobei sich im
aufkommenden Materialismus wiederum
das Hauptaugenmerk auf die Hyle
verlagerte. Das Zurückdrängen und
die Entwertung des Unbewussten sieht
Jung als eine Entziehung von Libido
(psychischer Energie), die
allerdings nötig war, um das
Bewusstsein zu stärken gegenüber
einer ursprünglichen
Vormachtstellung des Unbewussten. Ähnlich
könnte man das Patriarchat als nötig
im Sinne einer Überwindung der
Vormachtstellung des Weiblichen
ansehen. Ziel wäre ein neues
Gleichgewicht im Sinne der
Gegensatzvereinigung und einer
besseren Integration des Unbewussten
und damit der dunklen Seite, des
Schattens, ins Bewusstsein, wie es
schon in der Alchemie und der
hermetischen Philosophie
(Conjunctio) thematisiert wurde.
Analog hierzu wäre nicht ein neues
Matriarchat anzustreben, sondern ein
Ausbalancieren der Machtverhältnisse.
In Anlehnung an fernöstliches
Denken kann man in diesem
Zusammenhang an die Polarität von
Yin und Yang denken: das weiblich,
dunkle Erdhafte im Gegensatz zum männlich,
lichten, höheren Geistigen, wobei
immer ein Ausgleich, eine Balance
angestrebt wird, entgegen jeder
Einseitigkeit, was
wesentlicher Bestandteil des
Individuationsprozesses ist und
symbolisch durch die „Chymische
Hochzeit“ zwischen Sonne und Mond
dargestellt wird. Es geht natürlich
immer auch um den alten
Leib-Seele-Dualismus, die bereits
erwähnte Spaltung zwischen Geist
und Stoff oder Natur, die allzu oft
in einen dissoziativen und
leidvollen seelischen Zustand mündete
und zu dem Bemühen führte, eine
Einheit zum „ganzen Menschen“ zu
erlangen. Hinzu komme die
„metaphysische Spaltung“
zwischen der Gotteswelt und Satan,
zwischen dem „summum bonum“ und
dem absolut Bösen. Es gilt auch da,
eine Vereinigung der Gegensätze
anzustreben und Gott als
„complexio oppositorum“ zu
sehen. Dabei geht es wohlgemerkt um
die archetypische Vorstellung von
Gott, und nicht um den
Glaubensinhalt. Eine weitere Polarität
wäre die bereits erwähnte zwischen
Introversion und Extraversion, wobei
erstere primär auf das Subjekt
bezogen ist und letztere auf das
Objekt. Der alte Universalienstreit
zwischen dem Universalienrealismus
sowie platonischem Idealismus
einerseits und dem kynischen und
megarischen Nominalismus
andererseits spiegelt in
philosophischer Hinsicht diese
Gegensätzlichkeit. C. G. Jung
schreibt in „Psychologische
Typen“ (2011): „Wirklichkeit ist
nur das, was in einer menschlichen
Seele wirkt“.
„Die“ Wirklichkeit als einzig gültige
gibt es demnach gar nicht, und das
„esse in anima“ wäre die
vermittelnde Formel! „Die Psyche
erschafft täglich die
Wirklichkeit“, und es sind die
Fantasie, die Imagination, ebenso
Gedanke wie Gefühl, die zwischen
Innen- und Außenwelt die Brücke
schlagen. Es ist das Symbol mit
seinem Doppelcharakter, sowohl real
als irreal, das zwischen den Gegensätzen
vermittelt, da es im einen auch noch
das andere mit einschließt. Die
Ratio und das Bewusstsein sind dazu
nicht in der Lage, da sie nur das
Reale und das eindeutig Bestimmte
erfassen können, gemäß dem
Grundsatz der Logik „tertium non
datur“.
Und so bietet
uns die Psychoanalyse ein zeitüberlegenes
Verständnis seelischer Zusammenhänge,
ganz unabhängig von
Weiterentwicklungen und
Vertiefungen. Einen
interessanten biologisch-evolutionären
Gesichtspunkt hierzu findet man bei
dem Ameisen-Forscher Edward O.
Wilson in seinem Buch "Die
soziale Eroberung der Erde - Eine
biologische Geschichte des
Menschen" (2013).
Grundlegend im Menschen sieht er den
Konflikt zwischen eigennützigen,
egoistischen Motiven und dem Drang
zur Aufopferung für die
Gemeinschaft, wobei diese Zwiespältigkeit
auch die Grundlage für Kreativität,
Erfindungsreichtum und jedwedes
Streben sein soll. Ein großer Teil
der Kultur entstehe durch den
Zusammenprall zwischen individueller
Selektion und Gruppenselektion,
wobei das Schlimmste und das Beste
in unserer Natur immer nebeneinander
bestehen werden. Passend zu dem
Thema und empfehlenswert ist das
Buch von R. D. Precht
"Die Kunst, kein Egoist zu
sein."
Peter
Sloterdijk
(„Philosophische Temperamente“
2010) benennt als Grundkonflikt der
neuzeitlichen Welt „den
Widerspruch zwischen dem operativen
und dem meditativen Geist“, der
insbesondere von Blaise Pascal mit
fast archaischer Heftigkeit verkörpert
worden sei. Also Weltverbesserung
gegen Besinnung, quantitatives gegen
qualitatives Wachstum. Die Menschen
scheinen aber doch langsam zu
erkennen, dass nur ein Zusammenspiel
beider Tendenzen sinnvoll ist und
dass ein reines Streben nach
Beherrschung und technischem wie ökonomischem
Fortschritt den tieferen
menschlichen Bestrebungen nicht
gerecht werden kann. Wenn im
philosophischen Denken Absurdität
und Verzweiflung überwiegen, dann
ist Ausweglosigkeit die logische
Folge, denn Sinnlosigkeit verhindert
die Fülle des Lebens. Und so kann
man Sloterdijk zustimmen, wenn er
meint, dass es für die zukünftige
Geschichte der Menschheit gilt, ein
nachleibnizsches Prinzip des
Optimismus oder zumindest des
Nicht-Pessimismus zu regenerieren.
Er ist, wie viele andere
neuzeitliche Denker, skeptisch bis
ablehnend der Psychoanalyse gegenüber
eingestellt. Es geht dabei wohl vor
allem um einen „dogmatischen“
Ansatz, der mit dem Anspruch einer
Weltanschauung und nicht nur einer
wissenschaftlichen
Behandlungsmethode daherkommt.
„Die“ Psychoanalyse gibt es
ohnehin gar nicht mehr, angesichts
der verschiedenen Neuausrichtungen
und Weiterentwicklungen. Man kann
allerdings nicht leugnen, dass
innerhalb bestimmter Schulen die
Schriften des jeweiligen
„Meisters“ wie eine Bibel
behandelt werden, die nur noch der
richtigen Auslegung bedürfen. Eine
Tendenz zum „Dogmatischen“ in
der psychoanalytischen Bewegung geht
allerdings auf Freud selbst zurück,
der in einem Gespräch mit Jung die
Sexualtheorie als Dogma und Bollwerk
gegen die „schwarze Schlammflut“
des Okkultismus festlegen wollte.
Jung hatte die Vermutung, dass Freud
vom Numen der Sexualität ergriffen
war. Für ihn sei sie eine Art von
„res religiosa observanda“
gewesen, und die sexuelle Libido sei
zum „deus absconditus“ geworden,
habe „dämonische“, „göttliche“
Attribute erhalten.
Bei Rudolf
Eucken findet man wegweisende Ausführungen
zum Thema Glück, die ausgehend von
Platon und Aristoteles bis zur
Neuzeit die Bedeutung und die
Berechtigung des Strebens nach Glück
unterstreichen. Es geht dabei nicht
um „Eudaimonismus“ oder
„Hedonismus“, denn Glück kann
ganz unterschiedliche Qualitäten
haben, was bereits im Märchen von
„Hans im Glück“ sehr schön zum
Ausdruck kommt. Arete belehrt
Herakles wie folgt:
„Von dem Guten und wahrhaft
Schönen geben die Götter den
Menschen nichts ohne Mühe und Fleiß.“
Auch in der psychologischen
Forschung hat man sich mit diesem
Thema befasst, und Abraham Maslow
hat in seiner „Bedürfnispyramide“
gezeigt, dass von der Befriedigung
der sog. Grundbedürfnisse bis zur höchsten
Stufe, der Selbstverwirklichung, mit
ihren Höhepunkten im beruflichen,
wissenschaftlichen oder kreativ-künstlerischen
Schaffen, unterschiedliche Ausprägungen
von Zufriedenheit oder Glück
auftreten können. Von der
Selbstverwirklichung war bereits die
Rede bei Aristoteles, der
schon ähnliche Gedanken entwickelt
hatte, nichts ist so neu wie man
denken mag! Man kann hier ebenfalls
an den "Flow"-Zustand von
Mihály Csíkszentmihályi denken
oder an die "schöpferische
Leidenschaft" des Kurt Hahn,
dem Begründer der "Erlebnispädagogik",
das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit.
Zuletzt war es die "Positive
Psychologie", vor allem
verbunden mit dem Namen Martin
Seligman, dem auch der Begriff der
"erlernten Hilflosigkeit"
zu verdanken ist, die sich mit den
Umständen von Glück und
Zufriedenheit befasste. Es wurden
zahlreiche Komponenten oder "Stärken",
wie Liebe, Dankbarkeit, Neugier,
Optimismus, Humor und Tatendrang
sowie "Tugenden", wie
Weisheit, Mut, Menschlichkeit,
Gerechtigkeit, Mäßigung und
Transzendenz aufgestellt. Man
spricht in diesem Zusammenhang auch
von der ressourcenorientierten oder
der humanistischen Psychologie.
Es geht aber
nicht nur um Glück, um Sehnsüchte,
Träume, es geht auch um die
Sinnfrage, um ein erfülltes Leben.
Welche Umstände sind nötig , um
ein solches zu führen? Hört man
auf Nietzsche, so ist unser Dasein
nur gerechtfertigt als ästhetisches
und bejahenswertes Phänomen. Gemäß
seiner Lehre von der "ewigen
Wiederkehr" ist jeder
Augenblick unseres Lebens in diesem
Sinne ewig, und wir sollen stets
bedenken, ob unser Handeln und
unsere Entscheidungen jeweils im
Sinne der Freiheit und des
"gelebten Lebens"
erfolgen. Das "amor fati"
bedeutet, sein Schicksal anzunehmen,
in freiem Wollen und unabhängig
davon, ob wir letztlich wirklich
frei sind. Geschick und freier Wille
in paradoxem Wechselspiel! Leider
verlor Nietzsche selbst mit der Zeit
den Boden unter den Füßen und
letztlich sogar den Verstand. Den
unkontrollierten Einbruch des
Unbewussten konnte er allein
denkerisch nicht bewältigen.
Mit Wilhelm
Schmid
könnte man den „existenziellen
Imperativ“ befolgen: „Gestalte
Dein Leben so, dass es bejahenswert
ist!“ Und zwar in erster Linie für
den Einzelnen selbst, wenn möglich
auch für die andern, und nicht nur
hinsichtlich der „positiven“
Dinge, sondern insgesamt, mit allem,
was es an „Schönem“ aber auch
an Hässlichem, Peinlichem,
Unangenehmem und Schmerzlichem enthält.
Auch das Scheitern kann dazu gehören!
Entscheidend ist, ob das Leben als
„Gesamtkunstwerk“ bejahenswert
erscheint. Das "schöne
Leben" ist nicht ein leichtes
oder bequemes Leben, sondern eher
ein zumindest teilweise
beschwerliches, was aber Momente des
höchsten Glückes, etwa in der
Liebe, in der Freundschaft oder im
Schaffen nicht ausschließt. Ein
bejahenswertes Leben kann auch gegen
Widerstände von außen, gegen
gesellschaftliche Fehlentwicklungen
geführt werden und erhält so zusätzlich
eine politische Dimension, da das
Hinwirken auf die Veränderung von
Missständen daraus resultiert, was
im Übrigen eine Begleiterscheinung
von psychotherapeutischer Tätigkeit
sein kann. Als Psychotherapeut ist
oder wird man auch immer ein wenig
Philosoph, da das Eintauchen in die
Lebenswelt der Menschen und in ihr
Seelenleben notwendigerweise dazu führt,
dass man sich Gedanken macht über
die großen Fragen des Daseins.
Diese Dinge
wurden natürlich schon lange zuvor,
vor allem im philosophischen Denken,
beschrieben, auch von Platon. Ihm
war es vorbehalten, das Bild des
leidenden Gerechten zu entwerfen,
der verkannt und bis zum Tode
verfolgt wird (wie sein Lehrer
Sokrates), der aber durch alle Arten
von Anfechtung an innerem Glück
gewinnt, und hier sind wir natürlich
sehr weit vom landläufigen Verständnis
von Glück entfernt, da es nicht
mehr um die Befriedigung
irgendwelcher Bedürfnisse geht, um
das Streben nach materiellen Gütern
oder um Anerkennung von außen und
Macht, sondern um das Ruhen in sich
selbst, um den inneren Frieden und
eine geistige Freiheit, eine heitere
Gelassenheit, die einem nicht
genommen werden können. "Es
gibt kein volles Glück ohne
Seelengröße.“ Weiterentwickelt
wurde das Ganze durch Plotin, der
als Begründer der Mystik gelten
kann. Er meinte, in der Erfahrung
der Vereinigung mit dem Einen und
mit dem All das höchste Glück zu
finden. In ekstatischer Verzückung
und unbeschreiblicher Seligkeit
sollte man alles übrige vergessen können.
In die Niederungen des Alltags und
die nicht immer einfache
Lebensrealität sollte man dann gar
nicht mehr zurückkehren! Was das
Leben so an Prüfungen und Leiden zu
bieten hat, dem sollte geistige
Kraft dennoch gewachsen sein.
Schicksalsschläge, sowie körperliche
und seelische Erkrankungen, können
wohl das Lebensglück und die
Lebensfreude deutlich beeinträchtigen
oder gar zerstören, aber auch sie können
einen edlen Menschen nicht entwerten
und zerbrechen, denn durch alles
Unglück leuchtet bei ihm die Schönheit
der Gesinnung hindurch. Das Erlangen
von Glück wird von den Denkern
meist im Zusammenhang mit dem
Schaffen gesehen, mit dem
gestaltenden In-der-Welt-Sein, und
es ist unmittelbar mit der Sinnfrage
verbunden, womit wir bei Sisyphos
und seiner scheinbar sinnfreien Tätigkeit
wären, und bei seinem befreienden
Akt des Denkens und Philosophierens,
wobei symbolisch hier auch das ewig
vergebliche Bemühen, das Los der
Sterblichkeit von sich abzuwälzen,
dargestellt wird. Schelling wies
darauf hin, dass der Mensch nur
durch das Schaffen dem „horror
vacui“, dem Grauen vor dem Nichts,
entkommen könne: „Im Produzieren
ist der Mensch nicht mit sich
selbst, sondern mit etwas außer
sich beschäftigt...“ Dies könnte
als Loblied auf den Kapitalismus
missverstanden werden, aber auch
hier gilt: Qualität vor Quantität!
Rutger Bregman
hat in seinem richtungsweisenden
Buch „Utopien für Realisten“
(2017) gezeigt, dass mehr sinnvoll
genutzte Freizeit zum guten Leben
gehört. Der „Minimalismus“, von
Wolfgang Schmidbauer schon
1992 in seinem Buch „Weniger ist
manchmal mehr. Zur Psychologie des
Konsumverzichts“ angedacht, weist
uns den Weg: weg vom
Wachstumsdenken, hin zur
Bescheidenheit, auch zur Schonung
der Umwelt und der natürlichen
Ressourcen! In einer schweren
Depression scheint all dies wenig zu
helfen, sind doch die Freud- und
Hoffnungslosigkeit sowie die Gefühle
der Resignation allzu groß! Dennoch
liegt hier vermutlich der Schlüssel
für die Überwindung und das
Meistern eines solchen Zustandes,
der sich dann auch wiederum zur
Quelle von neuer Energie und
Lebensfreude zu entpuppen vermag und
zur Bestätigung der Annahme, dass
jede Krise ihr Gutes haben kann,
soweit man nur in der Lage ist, sie
derart zu nutzen! Dass
Grenzerfahrungen und deren Überwindung
dazu führen können, dass der
Mensch erst zu sich selbst findet
und über sich hinaus wächst, hat
Karl Jaspers eindrucksvoll
beschrieben. Menschen, die
unmittelbar in ihrer Existenz
bedroht sind, sei es durch Krieg und
Verfolgung, sei es durch Krankheit
und Hungersnot, wird man solche
Gedanken nur mit Mühe nahe zu
bringen vermögen. Angesichts des größten
Elends über die Suche nach Glück
zu philosophieren, kann wie der
reine Hohn erscheinen, insbesondere
wenn es dem Denker selbst
vergleichsweise eher gut ergeht! Es
gilt dabei auch, ein Missverständnis
zu vermeiden: nicht ein falsch
verstandenes „positives Denken“
ist angesagt und eine Art „Schönrederei“,
sondern die Kunst der Bewältigung
von schweren Schicksalsschlägen,
des Erlebens und des Aushaltens von
unaufhebbarer Gegensätzlichkeit.
Sicher hat das ebenfalls mit
Abwehrstrategien zu tun, aber die
sind ja nichts Schlechtes, im
Gegenteil, sie sind überlebenswichtig!
Schopenhauer sah das Leiden der Welt
und die Grausamkeit der Natur, und
in seiner düsteren
Betrachtungsweise schrieb er von der
Blindheit des weltschaffenden
Willens. Sicher kann man diese Sicht
nicht völlig beiseite schieben und
sollte sich mit ihr auseinander
setzen. Auch bei den Denkern wird
die grundlegende Gegensätzlichkeit
des Seins erkennbar: die hellen
Seiten ebenso wie die dunkleren! Im
Menschen gibt es Sinn und Unsinn,
wie auch in der Welt. Ob das
Sinnvolle die Oberhand gewinnen
wird, muss sich zeigen.
Im Zusammenhang
mit der Suche nach Glück kann man
an den Utilitarismus von Jeremy
Bentham denken, der in
moralphilosophischer Sicht auf dem
Kosten-Nutzen-Prinzip beruht, als
einzigem Kriterium für moralische
Entscheidungen. Es geht dabei um die
Maximierung von Lust und
Wohlbefinden sowie die Vermeidung
von Unlust und Schmerz. Der
amerikanische Philosoph Michael J.
Sandel
(„Gerechtigkeit“ 2013) zeigt,
dass diese Denkweise die aktuellen
Moralvorstellungen stark
beeinflusst, etwa wenn man
Foltermethoden rechtfertigt, um
Terroranschläge zu vermeiden, dass
dieser Ansatz aber zu kurz greift
und im Extrem den Wert eines
Menschen monetär bestimmt, was natürlich
zum kapitalistischen Denken passt
und die Würde des Menschen mit Füßen
tritt. In Schweden wollte etwa die
amerikanische Tabakindustrie der
Regierung aufzeigen, dass keine Erhöhung
der Tabaksteuer vonnöten sei, da
das Rauchen nachweislich dem Staat
finanziell nutze, indem das frühe
Ableben der Raucher bei den Renten,
der Gesundheitsversorgung und der
Altenpflege hohe Einsparungen
bringe. Zu Recht löste diese
Argumentation heftige Proteste aus
und wurde mit einer Entschuldigung
zurückgenommen. Der Philosoph und
Ökonom John Stuart Mill brachte
eine Weiterentwicklung der Theorie
und öffnete sie in Richtung
Menschenwürde und zusätzlicher
ethischer Prinzipien die Persönlichkeit
betreffend, jenseits der Nützlichkeit.
Unter anderem war er der Meinung,
dass Konformität der Feind des
guten Lebens sei! Die vollständige
und freie Entwicklung der
menschlichen Fähigkeiten sei das höchste
Ziel. Immanuel Kant wiederum hat
herausgestellt, dass es einen
Unterschied gibt zwischen Personen,
denen als vernunftbegabte Wesen eine
besondere Würde und Respekt
zukommen, und Sachen, die man
benutzen kann, was ganz allgemein
gegen eine Verdinglichung und
Vermarktung von Menschen spricht.
Vernunft und Freiheit sind die
Grundlage von universell gültigen
moralischen Prinzipien, was nicht
heißen will, dass die Menschen
immer vernünftig und selbstbestimmt
agieren! Aber durch ihre Fähigkeit,
selbstbestimmt zu handeln, erhalten
sie ihre Würde. Eine Gruppe von
Philosophen, zu denen auch Sandel
gehört, berufen sich auf
Aristoteles und vertreten eine
moralphilosophische Richtung
(Kommunitarismus), die sich verstärkt
auf „narrative“ Aspekte des
Menschen gründet und auf das
„gute Leben“, auch wenn
letzteres in der pluralistischen
Gesellschaft in unterschiedlicher
Weise definiert und kontrovers
diskutiert wird. Es geht um
Bindungen, um Loyalität und
Solidarität sowie teleologische
Aspekte. Dies bedeutet u. a. eine
Aufgabe der Neutralität des Staates
in moralischen Fragen. Überdenkenswert
ist die These von Sandel, dass ein
Ausblenden von konkurrierenden
moralischen und religiösen
Vorstellungen das Aufleben von
Fundamentalismen begünstigen könnte.
Barack Obama habe die vorhandene
Sehnsucht nach Moral und Spiritualität
erkannt, ihr politischen Ausdruck
verliehen und dadurch die Menschen
erreicht. Die Weiterentwicklung und
Anpassung von Rechtsnormen beruht ja
immer auf einer gesellschaftlichen
Auseinandersetzung und
Neuausrichtung, mit entsprechenden
Argumentationen, die eine Veränderung
rechtfertigen. Es geht darum, eine
öffentliche Kultur zu schaffen, die
mit den unvermeidlich auftretenden
Meinungsverschiedenheiten in
gegenseitigem Respekt umzugehen weiß.
Man wird nicht umhin kommen, sich in
der Gerechtigkeitsfrage auch mit
Werten, Tugenden und
Zielvorstellungen zu befassen, wobei
auch zunächst utopisch erscheinende
Szenarien wie etwa jene von Rutger
Bregman vorgestellte zu berücksichtigen
wären.
Von Bedeutung
erscheint mir, dass die Philosophie
und die Denker auch in der heutigen
Zeit wieder stärker ihre Stimme
erheben und zu den großen aktuellen
Problemen in der Gesellschaft, in
der Politik, in der Erziehung, in
der Wirtschaft, im globalen
Zusammenleben und in der Umwelt
Stellung beziehen.
Ein
bahnbrechender Denker in dieser
Hinsicht ist Michel Foucault. Seine
Schriften könnten zu der Vermutung
Anlass geben, er sei gar kein
Philosoph, sondern Sozialhistoriker
oder gar Sexualwissenschaftler, da
er sich bewusst mit Vorgängen und
Institutionen in der Vergangenheit
befasste, etwa mit psychiatrischen
Anstalten, Krankenhäusern und Gefängnissen.
Sein Anliegen war es, sich mit
Dingen auseinander zu setzen, die
von den Menschen problematisiert
wurden, und diese in einen größeren
Zusammenhang zu stellen, etwa in der
Diskurstheorie.
Philosophie ist
für mich vor allem die Wissenschaft
der Lebenskunst, natürlich auch der
Weisheit und der Liebe zu Weisheit,
Wahrheit und Erkenntnis,
entsprechend dem Wortsinn, aber sie
soll auch über Werte, über das
Gute und Schöne reden, also
moralische und ästhetische Fragen
angehen, ja sie soll überhaupt den
Menschen zeigen, dass es wichtig
ist, Fragen zu stellen und alles
immer wieder in Frage zu stellen.
Dabei sollte sie keine Angst haben
vor einer gewissen Sprengkraft und
Subversivität. Wahrheiten sind
nicht immer bequem und
beschwichtigend, schon gar nicht
immer dem „Zeitgeist“
entsprechend. Fragen zu stellen heißt
nicht gleichzeitig, Antworten zu
geben, also Normen festzulegen, da
wir ansonsten schnell in Richtung
Ideologie abweichen können. Dies
gilt es zu vermeiden, ein
Balanceakt! Es geht um den
Unterschied zwischen Moral und
Ethik, also um Werte, Normen und
Regeln einerseits und um das
Hinterfragen und Begründen
moralischer Prinzipien andererseits.
Für die Psychoanalyse und generell
die Psychotherapie müsste gelten,
dass man sich nicht nur für den Körper
und die Seele (Psyche) interessiert,
sondern auch für den Geist, das
Denken und die Transzendenz (nicht
im religiösen Sinn gemeint!). Eine
psychotherapeutische Schule hat dies
sogar in den Mittelpunkt gestellt,
und zwar die
"Daseinsanalyse", wobei
eine Reflexion über das
"Leiden am eigenen Sein"
und die Grundbedingungen der
menschlichen Existenz stattfinden
soll. Die Erkenntnisse und das
Verstehen der Bilder aus dem
Unbewussten in der Analyse müssen
dann allerdings auch unbedingt als
ethische Verpflichtung gesehen
werden und als Anstoß zur persönlichen
Weiterentwicklung.
Montaigne und
vor ihm Sokrates meinten,
Philosophie bedeute Sterben lernen.
Mit Hans-Georg Gadamer
könnte man ergänzen; "Sterben
lernen heißt lernen, das
anzunehmen, was das Leben lebenswert
macht." In Anlehnung an Epikur
(„Solange wir da sind, ist er
nicht da, und wenn er da ist, sind
wir nicht mehr.“) meinte Karl
Marx, der Tod sei nicht für den ein
Unglück, der sterbe, sondern für
den der überlebe! Der Tod kann
seinen Schrecken verlieren, wenn er
im Sinne einer natürlichen und
unabdingbaren Begrenztheit unserer
Existenz angenommen wird, als eine
"Conditio sine qua non",
ohne die es das Leben nicht gäbe. Für
das Geschenk des Lebens müssen wir
mit dem Tode bezahlen. Das ist die
Spielregel, schon bei der Geburt so
festgelegt. Wenn wir gelernt haben,
zu teilen und die Dinge des Lebens
nur als Leihgaben anzusehen, dann
sind wir auch bereit, unser Leben
eines Tages wieder herzugeben und
loszulassen. C. G. Jung meinte, dass
unser Leben eine Vorbereitung auf
den Tod sei und dass letzterer als
Ziel und Erfüllung zu den normalen
Aufgaben des Lebens gehöre Der ausgeprägte
Totenkult vieler antiker Völker,
etwa der Ägypter, bestätigt diese
These, wobei immer auch der
zuversichtliche Glaube an ein
Weiterleben nach dem Tode
sinnstiftend vorhanden war. Die
Aufklärung hat diese Hoffnung
nachhaltig erschüttert, aber man
kann zumindest nicht ganz ausschließen,
dass sich das menschliche Streben
nach Transzendenz und Vergeistigung
nicht doch auf irgendeine Art von
Unsterblichkeit bezieht. Der
Psychotherapeut und Autor Irwin D.
Yalom
hat in seinem Buch „In die Sonne
schauen. Wie man die Angst vor dem
Tod überwindet.“ (2009) einige
hilfreiche Überlegungen angestellt
zu diesem Thema. Man könne den Tod
vergleichen mit dem unbewussten
Zustand vor der Geburt, in den wir
am Ende des Lebens erneut
eintauchen. Probleme mit dem Tod
wird man vor allem dann haben, wenn
das eigene Leben als nicht erfüllt
angesehen wird und man keine
"Wellen" angestoßen hat,
die andere Menschen erreichen und
unseren Tod überdauern. Dabei geht
es wohlgemerkt nicht um die persönliche
Identität des Einzelnen, sondern um
wertvolle und sinnstiftende
Anregungen, die sich wellenförmig
ausbreiten und so ihre Wirkung
entfalten. Die Bedeutung dieser
Wellen, sogar in
"kleinsten" Dingen, wird
auch vom Sozialpsychologen John
Bargh
(„Vor dem Denken“ 2017) bestätigt,
und zwar aufgrund der neuesten
Befunde der Forschung! Der Germanist
und Psychotherapeut Wolfram Schmitt
(„Leib, Wandlung und Transzendenz
in der Lyrik Rainer Maria Rilkes“,
2015) meint, dass der Tod im Leben
immer schon enthalten sei und uns
begleite. Ziel des Lebens und der
Dichtung sei es, mittels Wandlung
und Metamorphose bei uns selbst
anzukommen, in unserem Inneren, im
„Weltinnenraum“. Daraus
entstehend kann man vielleicht jene
Haltung des taoistischen „Wu
wei“ erreichen: das „Tun durch
Nichts-Tun“ oder besser "Tun
und Nichts-Tun" (vielleicht
auch „Ergreifen, Begreifen durch
Nicht-Ergreifen, Nicht-Begreifen“)
oder das „Sich-Lassen“ des
Meister Eckhart. Dann wird man
annehmen können, was von innen oder
von außen auf uns zukommt, auch
wenn es irrational und unbegreiflich
erscheint, „ein Gefühl von Versöhnung
mit dem Geschehenden überhaupt“,
wie C. G. Jung es ausdrückt. Diese
Fähigkeit, sich selbst und die Welt
annehmen zu können, wird allerdings
immer auch davon abhängen,
inwieweit man das Angenommensein
durch die Mutter (der Urbeziehung)
in ganz früher Zeit am eigenen Leib
erfahren hat.
Philosophie
sollte uns zu intellektueller
Bescheidenheit anleiten, zu dem
Bewusstsein, dass wir sehr vieles
nicht wissen oder nur rudimentäres
Wissen besitzen, ganz im Sinne von
Sokrates, der seinen Mitbürgern
immer wieder zeigte, wie wenig wir
wissen angesichts der Geheimnisse
der Welt und des Universums. Heute könnte
man hinzufügen "der
Universen", da es
wahrscheinlich nicht nur eines gibt
und wir eine erneute kopernikanische
Wende erleben: unser Universum ist
nur eines von vielen!
2. Eros
Masken!
Masken! Daß man Eros blende.
Wer erträgt
sein strahlendes Gesicht,
wenn er wie
die Sommersonnenwende
frühlingliches
Vorspiel unterbricht.
Wie es
unversehens im Geplauder
anders wird
und ernsthaft... Etwas schrie...
Und er wirft
den namenlosen Schauder
wie ein
Tempelinnres über sie.
O verloren,
plötzlich, o verloren!
Göttliche
umarmen schnell.
Leben wand
sich, Schicksal ward geboren.
Und im
Innern weint ein Quell
(R. M. Rilke)
"Der
Wahn ist kurz, die Reu ist
lang." Etwas Wahnhaftes hat die
Liebe schon, aber sie ist
gleichzeitig wie ein Zauber, der uns
verändert und verklärt. Ohne sie wäre
das Leben ziemlich grau und
langweilig, mit ihr ist es aufregend
und voller Elan, man will sie nicht
missen. Und doch ist sie auch ein
Quell von Seelenschmerz, möglicherweise
sogar lebensgefährlich, zerstörerisch.
Für die Philosophen war sie immer
schon ein Thema, nicht nur für die
Dichter und Künstler, auch wenn es
zunächst die Liebe zur Weisheit
ist, die sie behandeln oder die
"platonische Liebe".
Epikur im Garten der Lüste wendete
sich an einen Schüler, der ihm
berichtet hatte, seine körperliche
Erregung dränge ihn häufig zu
sexueller Befriedigung: "In
Ordnung. Wenn du dabei nie die
Gesetze brichst, nicht die Gebote
guter Sitten verletzt, keinen deiner
Mitmenschen kränkst, auch deinen Körper
nicht zugrunde richtest und das zum
Leben Notwendige nicht
verschleuderst, dann gib dich deiner
Neigung so hin, wie du willst.
Allerdings ist es unvermeidlich,
sich dabei in mindestens einen
dieser Tatbestände zu verstricken.
Die geschlechtliche Liebe hat nämlich
noch nie etwas genutzt, man muss
sich schon freuen, wenn sie nicht
schadet". (Gnom. Vat. Ep. 51)
Er und andere Weise waren
demnach zumindest der körperlichen
Liebe gegenüber recht vorsichtig
und besorgt, was manche dazu führte,
eine sublimierte Form der Liebe zu
bevorzugen, ähnlich wie der
alternde Sokrates den Alkibiades
zwar sehr liebte, aber eben auf
diese rein geistige Weise, trotz der
Avancen des jungen Mannes. Sokrates
wollte ihm den Schatz der
Weisheit vermitteln: "Die
Weisheit des Meisters ist nunmehr
das Objekt der wahrhaften
Liebe." Er wird von der Kraft
der wahrhaften Liebe getragen, und
er weiß das Wahre, das man lieben
soll, wahrhaft zu lieben. Alkibiades
berichtete später in einem leicht
angetrunkenen Zustand, er habe
versucht, den Meister zu verführen,
indem er in dessen Bett schlüpfte,
aber es sei gewesen wie wenn er mit
seinem Vater oder dem älteren
Bruder geschlafen habe! Einige
Philosophen dachten auch, es sei
besser, wenn der Weise unverheiratet
bliebe, um nicht abgelenkt zu sein
durch Frau und Kinder und um sich
ganz der geistigen Tätigkeit widmen
zu können. Vielleicht spielte hier
das abschreckende Beispiel der Ehe
von Sokrates mit Xanthippe eine
Rolle, aber Nietzsche meinte ja,
dass Sokrates es nicht besser hätte
treffen können, da er vor seiner zänkischen
Frau immer wieder die Flucht
ergriff, um draußen zu
philosophieren und die Leute
anzusprechen. Möglicherweise liegt
hier auch der Ursprung des späteren
Zölibats der Priester. Die
griechischen Denker waren ja nicht
ohne Einfluss auf das Christentum.
Ernest Bornemann
(„Das Patriarchat“ 1984)
hingegen meinte, man dürfe nicht
die Xanthippe als unmögliche und zänkische
Ehefrau hinstellen, sondern eher
Sokrates als unmöglichen Ehemann.
Ziemlich hässlich soll er ja
gewesen sein. Bei Nietzsche
findet sich ein Text in "Fröhliche
Wissenschaft", der die mögliche
Entfremdung zwischen Liebenden in
sehr schöner Form darstellt:
"Wir sind
uns Einmal im Leben so nahe gewesen,
dass Nichts unsere Freund- und
Bruderschaft mehr zu hemmen schien
und nur noch ein kleiner Steg
zwischen uns war. Indem du ihn eben
betreten wolltest, fragte ich dich:
"willst du zu mir über den
Steg?" – Aber da wolltest du
nicht mehr; und als ich nochmals
bat, schwiegst du. Seitdem sind
Berge und reißende Ströme, und was
nur, trennt und fremd macht,
zwischen uns geworfen, und wenn wir
auch zu einander wollten, wir könnten
es nicht mehr! Gedenkst du aber
jetzt jenes kleinen Steges, so hast
du nicht Worte mehr, – nur noch
Schluchzen und Verwunderung."
Es geht hier um
Nähe, möglicherweise zu viel Nähe,
und um Macht. Schon die Frage, ob
der andere über den Steg kommen
wolle, führt zu einem Zurückschrecken
und danach sogar zur Trennung. Dabei
hätte es der Frage gar nicht
bedurft! Der andere war ja schon
dabei, den Steg zu betreten. Angst
vor zu viel Nähe, vor dem Verlust
der eigenen Identität und der
Autonomie kann demnach zum Scheitern
einer Liebesbeziehung führen. Die
Distanzregulierung gehört nach C.
G. Jung zu den schwierigsten
Problemen des
Individuationsprozesses. Wir neigen
dazu, die Distanz einseitig
abzubauen und dadurch den andern in
gewisser Weise zu vergewaltigen,
wodurch entsprechende Ressentiments
entstehen. Jede Beziehung hat ihr
Optimum an Distanz, welche es
herauszufinden gilt. Das archaische
Gefühl der Identität, das wir beim
Verliebtsein erleben, kann sich als
Irrtum herausstellen, so lange wir
nicht unsere Projektionen zurückgezogen
haben. Es gibt aber auch die wahre
und tiefe Begegnung auf einer höheren
Ebene, die eine schicksalhafte
Verbindung zum Selbst in einer
anderen Person in seiner Ganzheit
darstellt. Etwa wenn wir jemandem
erstmals begegnen und meinen, dass
wir ihn schon „seit Ewigkeiten
kennen“. In dieser Art von Liebe
kann der „kosmische Mensch“, der
„Anthropos“ wieder auferstehen
und gegen die Fragmentierung und
Atomisierung der modernen
Gesellschaft wirken, so Marie-Louise
von Franz in „Archetypische
Dimensionen der Seele“ (2012).
Vielleicht ist das jene
„zweckfreie“ Liebe, die Erich
Fromm meinte, als er diese dem
konsumorientierten Streben nach
sexueller Lust entgegensetzte. Wenn
letzteres im Vordergrund steht, dann
könnte man meinen, dass man von der
„wahren“ Liebe weit entfernt
sei, aber schwingt hier nicht eine
lustfeindliche Einstellung mit
hinein? Sicher kann man etwa den
„pädagogischen Eros“ von der
geschlechtlichen Liebe abgrenzen,
wobei auch ersterer nicht zweckfrei
ist, aber mit der körperlichen
Vereinigung ist die Voluptas, der
Liebesgenuss, untrennbar
verbunden. Geht es allerdings darum,
vor allem selbst geliebt zu werden,
statt die Fähigkeit zu lieben
weiterzuentwickeln, dann wird der
andere Mittel zum Zweck und die
Liebe obsolet!
Zeitgenössische
Philosophen wie beispielsweise
Richard David Precht
"Liebe, ein unordentliches Gefühl"
oder Wilhelm Schmid
"Die Liebe neu erfinden"
haben das Thema aufgegriffen und
zeigen, dass es an Aktualität
nichts verloren hat, im Gegenteil.
Die Sehnsucht nach der Liebe, womöglich
der "absoluten" Liebe ist
stärker denn je, was vermutlich
auch daran liegt, dass die Menschen
in der Liebe eine Art
Religionsersatz gefunden haben, der
ihrem Leben Sinn und Glücksgefühle
verleihen soll, wobei dann natürlich
die Enttäuschungen nicht
ausbleiben, denn Liebe soll ja keine
einseitige Sache bleiben und
erfordert das Mitspielen eines
anderen, der dann möglicherweise
nicht mitspielen will oder ganz
anders spielt als erwartet oder erwünscht
und der vielleicht erst mitspielt
und einem später dann übel
mitspielt. Zudem währt ja
bekanntlich der Zustand des
Verliebtseins nicht ewig, und es
stellt sich immer wieder die Frage:
was kommt danach?
Trennungsgeschichten mit erbittertem
"Rosenkrieg" und
Schlammschlachten kennt man zur Genüge,
auch als Psychotherapeut wird man häufig
damit konfrontiert und insbesondere
mit den unseligen Folgen für die
Kinder der zerstrittenen Eltern. Es
ist dann nicht mehr Liebeskunst,
sondern Beziehungskunst gefragt,
sowie Gesprächskunst, und da sind
viele überfordert, oder es fehlt
ihnen die Bereitschaft, diese
"Arbeit" zu leisten.
Gelingt aber die Überwindung der
unvermeidlichen Krisen, und man
gelangt zu einer neuen Stufe im
Lieben, die mehr mit Freundschaft,
mit Vertrauen, Verständnis, mit Wärme
und Geborgenheit zu tun hat, dann
kann eine solche Beziehung lange währen,
und sie bekommt dadurch eine ganz
neue Qualität und Konsistenz. Die
aktuelle Empathieforschung zeigt die
Bedeutung des Spiegelns in einer
Liebesbeziehung. Vor allem in den späteren
Phasen einer Partnerschaft ist es
wichtig, ob beide in der Lage sind,
einander problemlos und intuitiv zu
spiegeln, wobei natürlich auch die
zunehmende Vertrautheit eine Rolle
spielt.
Oder aber man
erkennt, dass man doch nicht für
eine dauerhafte Partnerschaft
bestimmt ist und trennt sich in Würde,
was ebenfalls eine Kunst ist und was
man unter Umständen auch nicht ohne
Hilfe bewerkstelligen kann. Eine
Paartherapie bedeutet nicht
unbedingt, um jeden Preis ein Paar
zusammenzuhalten. Vielmehr soll sie
dazu dienen, die Beziehung zu klären
und einen Entwicklungsschritt möglichst
gemeinsam zu wagen oder eben
auseinander zu gehen, ohne allzu große
gegenseitige Verletzungen und Kränkungen.
Im günstigsten Falle bleibt man
freundschaftlich miteinander
verbunden, was vor allem bei
vorhandenen Kindern für diese ein
Segen ist.
Schon Ovid
befasste sich in „Remedia Amoris“
mit dem möglichen Scheitern der
Liebe sowie dem Liebeskummer und ergänzte
so seine „Ars amatoria“. Wenn
man über den Schmerz hinweg sei, könne
man erneut nach letzterer greifen
und eine neue Liebe beginnen.
Heutzutage wäre der „Kamasutra“
eine näher liegende Alternative.
Häufig geht es
in der Krise um einen Seitensprung,
also um eine meist vorübergehende
Dreieckskonstellation, wobei es sich
sehr oft um die Reinszenierung des
ödipalen Konflikts handelt. Der
Paarspezialist Hans Jellouschek
hat in seinem Buch "Warum hast
Du mir das angetan? Untreue als
Chance." gezeigt, dass
Fremdgehen eines Partners nicht nur
negative Auswirkungen haben muss,
obwohl es zunächst als starke Kränkung
und als Vertrauensbruch erlebt und
erlitten wird und aus moralischer
Sicht wohl kaum zu befürworten ist.
Es kann aber die Beziehung auch
beleben, neue Spannung erzeugen und
einen gemeinsamen
Entwicklungsschritt ermöglichen.
Eine solche Krise macht zudem
deutlich, dass in einer
Partnerschaft viele Dinge immer
wieder neu ausgehandelt werden müssen
und dass nie etwas ein für alle Mal
festgelegt ist, auch wenn man sich
auf bestimmte Regeln geeinigt hat.
Natürlich macht sich der Übertreter
einer dieser Regeln in gewissem
Sinne schuldig, und der andere hat
nun die Aufgabe, ihm dies zu
vergeben und nicht ein Leben lang
immer wieder "aufs Brot zu
schmieren". In der Liebe muss
es möglich sein, Fehler des anderen
zu ertragen und zu verzeihen. Sollte
ein Seitensprung aber zur Trennung führen,
so war es vielleicht der
erforderliche Anlass, um diese
Entscheidung treffen zu können.
In der Liebe
wird eine Sehnsucht des Menschen
nach Transzendenz, nach Erweiterung
seines Selbst erkennbar, bis hin zur
Entgrenzung und Verschmelzung, also
dem Einswerden mit einem andern und
der damit verbundenen Gefahr, sich
selbst zu verlieren. Die Liebe kann
sich nämlich von der Ergriffenheit
zur Besessenheit steigern, bis hin
zu einer Art Selbstverlust, was
wiederum zum Überdruss beim Partner
führen kann. Wahrscheinlich löst
die Liebe deswegen auch Gefühle der
Angst aus, sie ist ein
Ausnahmezustand. In ihr erleben wir
das Gefühl der Entfremdung, der
nicht aufhebbaren Distanz zwischen
den Menschen. Dauerhaftes Einssein
und Harmonie sind nicht möglich,
und daraus ergibt sich die Erfahrung
der Einsamkeit. Die paradiesische
Ursprungseinheit ist nicht mehr
wiederzugewinnen. Zur Liebe gehört
das Wort Leidenschaft, und es wird
immer wieder darauf hingewiesen,
dass sie im Wortsinn auch
"Leiden schafft".
Vielleicht ist
dies ein Grund dafür, dass man in
unserer Zeit dazu neigt, die Liebe
zu „entschärfen“. Der Philosoph
Byung-Chul Han
meint dazu: „Und ist es nicht tatsächlich
so, dass man auch in der Liebe heute
jede Verletzung meidet? Man will
nicht verletzlich sein, man scheut
jedes Verletzen und jedes
Verletztsein. Für die Liebe braucht
man einen hohen Einsatz. Aber man
meidet diesen hohen Einsatz, weil er
zur Verletzung führt. Man vermeidet
Leidenschaft, und in Liebe zu
verfallen ist schon zu viel
Verletzung.“
Die Liebe wird
ohnehin nicht das höchste Gut und
Ziel des Lebens sein. Sie kann uns
aber hinführen zum wichtigeren Ziel
der Einheit und Ganzheit des Selbst
in der gelungenen Individuation und
zunehmenden Bewusstheit. Wir müssen
zum Kern der Persönlichkeit
vordringen, zum „punctum
indivisibile“, zur Aufhebung der
Gegensätze. Wenn wir der Liebe zu
viel Raum geben, uns sozusagen in
den andern verlieren, vielleicht
ohne dass der es überhaupt wert
ist, dann kommt man in eine Übertreibung
und Übersteigerung hinein, wobei
oft kreative Energien oder religiöse
Gefühle gebunden werden, die viel
produktiver genutzt werden könnten.
Leider erkennt man dies oft erst
hinterher. Im Verliebtsein wird eine
Art von Schicksalszwang (Heimarmene)
erkennbar, der die Freiheit der Wahl
einschränkt. Der Eros ist ein
Numinosum, ein "mysterium
fascinans" wie auch ein
"mysterium tremendum",
Himmel und Hölle, Gott und Teufel.
Im „Hohelied der Liebe“ hat
Paulus im Korintherbrief über
dieses Geheimnis Wunderbares
geschrieben: „Wenn ich mit
Menschen- und mit Engelzungen
redete, und hätte der Liebe nicht,
so wäre ich ein tönend Erz oder
eine klingende Schelle. ... sie
verträgt alles, sie glaubet alles,
sie hoffet alles, sie duldet alles.
... Die Liebe höret nimmer auf, so
doch die Weissagungen aufhören
werden und die Sprachen aufhören
werden und die Erkenntnis aufhören
wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk,
und unser Weissagen ist Stückwerk.
Wenn aber kommen wird das
Vollkommene, so wird das Stückwerk
aufhören.“ (1. Korinther 13)
In dem erwähnten
Buch von Precht ist mir ein Passus
etwas unangenehm aufgefallen, und
zwar seine Ausführungen über
Freud. Er scheint nicht sehr viel
von ihm zu halten und macht sich
sogar ein wenig lustig über ihn. Im
Zusammenhang mit den Theorien zur
Liebe sind seine Angaben aber auch
unrichtig. Er meint, Freud habe eine
Art "Beschädigungstheorie"
vorgestellt, da er meinte, der
Mensch bleibe irgendwie unvollständig
durch die nicht geglückte Ablösung
von der Mutter, und er suche später
in der Liebe die Einheit mit der
Mutter wiederherzustellen. Es stimmt
wohl, dass die Ablösung von der
Mutter (von der „Großen
Mutter“!) nicht immer gelingt, und
wir Therapeuten haben dadurch viel
zu tun, aber in der Regel wird sie
doch stattfinden, was mitunter eine
Lebensaufgabe bleibt. Und in der
Liebe wird der Mann vielleicht in
der Frau einen Mutterersatz suchen
und die Frau im Partner einen
Vaterersatz, aber es ist doch eher
so gedacht, dass die Liebe zu den
Eltern eine Art Vorläuferfunktion
hat, damit wir als Erwachsene
richtig lieben können. In der
Evolutionspsychologie (Stephen Jay
Gould) wird dies teilweise genau so
gedeutet, dass die Liebesgefühle
sowie die damit einhergehende Ausschüttung
von Glückshormonen ursprünglich
die Brutpflege sichern sollten und
dann als "Spandrel",
sozusagen ein Nebenprodukt der
Evolution, weiterbestanden. Die
Sache mit dem unvollständigen
Menschen findet sich eher in der
griechischen Mythologie, und zwar in
der Idee der
"Kugelmenschen", von denen
Platon im „Symposion“ erzählt
(die „Aristophanische Legende“).
Es habe nicht nur Männer und Frauen
gegeben, sondern auch ein „drittes
Geschlecht“, die „Mannweiber“,
also Hermaphroditen. Demnach hätten
alle Menschen ursprünglich vier
Beine, vier Arme und einen Kopf mit
zwei Gesichtern gehabt, und Zeus
habe sie zur Strafe für ihr
Aufbegehren gegen die Götter
zweigeteilt. Seither leiden die
Menschen an ihrer Unvollkommenheit,
seien immer auf der Suche nach ihrer
fehlenden Hälfte, und dies sei der
Ursprung des erotischen Begehrens.
Freud
bezog sich zwar in „Jenseits des
Lustprinzips“ (1920) auf diese
Geschichte, brachte sie aber in
Zusammenhang mit seiner Annahme des
regressiven Charakters der Triebe.
Es bestehe das „Bedürfnis nach
der Wiederherstellung eines früheren
Zustandes“. C. G. Jung erkannte
den Archetypen „Hermaphroditus“
und postulierte wie Freud den
„Psychischen Hermaphroditismus“.
Davon abgeleitet entwickelte er die
Konzepte „Anima“ und
„Animus“. Teleologisch gesehen
kann natürlich die Begegnung mit
dem anderen oder dem eigenen
Geschlecht sehr wohl zu einer
Weiterentwicklung und zu einer
gelingenden Individuation führen,
aber nicht, um ein Defizit
auszugleichen, sondern um die
Bestimmung des zum Mitmenschen
hingewandten Wesens zu
verwirklichen. In einer gewissen
Weise kann sich der Mensch also
schon unvollständig, fühlen, vor
allem, wenn er sich noch nicht mit
seinem Schatten und der Anima
(Animus) auseinandergesetzt hat, und
er strebt im Laufe seiner
Weiterentwicklung insofern zu einer
Vervollständigung, und in der
liebenden Verschmelzung mit einem
anderen Menschen kann er diesen
ersehnten Zustand erahnen. Falls man
in der Psychoanalyse von einer Beschädigungstheorie
sprechen möchte, so beträfe es
allenfalls die
Kastrationsproblematik, wobei es
nicht um eine reale Beschädigung
geht, sondern um eine fantasierte.
Im Grunde geht es darum, zu
akzeptieren, dass wir nicht Frau und
Mann gleichzeitig sein können,
unabhängig vom „psychischen
Hermaphroditismus“, sondern dass
es sich um eine Gegensätzlichkeit,
eine Komplementarität handelt.
Diese Einsicht zu erlangen, ist eine
der Hauptaufgaben der Adoleszenz.
Darüber hinaus kann man in
Anlehnung an Erich Neumann („Ursprungsgeschichte
des Bewusstseins“ 1974) die
Kastrationsangst nicht nur als
Beiwerk der ödipalen Triangulation
verstehen, als Angst vor der
Bestrafung durch den Vater, sondern
ursprünglich verbunden mit dem
Archetypus der „furchtbaren
Erdmutter“, die zur Befruchtung
das Blut, den zerstückelten Körper
und den Phallus des
„Sohngeliebten“ als Opfer
einfordert. Nur so wird neues Leben
möglich, durch das Sterben und die
Wiederauferstehung oder
Wiedergeburt.
Die „Welt des
Eros“ entsteht mittels der
Befreiung der Gefangenen, der
Prinzessin, Ariadne oder Andromeda,
wie es im Heldenmythos symbolisch
dargestellt ist. Dadurch wird die
„Anima“, das „obere
Weibliche“, aus dem Bild der Großen
Mutter herausgelöst und verbindet
sich mit dem „oberen Männlichen“,
was wiederum gleichbedeutend ist mit
der Befreiung von der Übermacht des
Unbewussten und der
Weiterentwicklung des Bewusstseins.
Die Befreiung der Gefangenen und die
Gewinnung des Schatzes, der
„schwer erreichbaren
Kostbarkeit“, symbolisieren die
Selbstfindung und das Schöpferischwerden
der Seele, die Synthese des
Ichbewusstseins mit dem kreativen
Unbewussten. Es geht um das
Heraufholen und die Verwirklichung
jener Bilder der Seele, und diese
„selbstzeugerische“, schöpferische,
„göttliche“ Kraft ist es, die
uns erst zu Menschen macht.
In den Studien
der Soziologin Eva Illouz (2011
und 2013 ) wird erkennbar, dass es
zumindest aus
feministisch-soziologischer Sicht
bei der Liebe offenbar immer auch um
Herrschafts- und Machtfragen geht,
wobei sozioökonomische Faktoren und
die soziale Mobilität zusätzlich
eine Rolle spielen. Es geht also
nicht zuletzt ums Geld, um Konsum,
um finanzielle Absicherung und die Möglichkeit,
durch einen geeigneten Partner in
der gesellschaftlichen Hierarchie
wenn möglich aufzusteigen. Die von
männlicher Seite gefühlte und natürlich
nicht wissenschaftlich abgesicherte
zunehmende Macht der Frauen, die uns
Männer immer mehr in die Defensive
drängt, wird von der anderen Seite
gerade durch die Entwicklung in
Liebesdingen wiederum als gefährdet
angesehen! Neue Formen
„emotionaler Herrschaft“ von Männern
über Frauen werden ausgemacht. Im
Übrigen weist die Autorin in ihrem
Buch „Warum Liebe wehtut. Eine
soziologische Untersuchung“ darauf
hin, dass eine besondere
Verletzlichkeit des Selbst in der
Moderne auch dazu führt, dass
gerade in den Liebesbeziehungen eine
solche Verletzlichkeit, die sowohl
emotionaler als institutioneller
Natur ist, zum Liebesleid
entscheidend beiträgt. Sie zeigt
auch die Besonderheiten von Liebesglück
und Liebesleid in unserer Epoche,
wobei u.a. die „überwältigende
Bedeutung der Liebe für die
Ausbildung eines sozialen
Selbstwertgefühls“ hervorgehoben
wird. „Sexueller Kapitalismus“
äußere sich etwa darin, dass man
seinen Selbstwert von der Anzahl der
Sexualpartner abhängig macht, also
Quantität gleich Qualität!
Beliebige Austauschbarkeit der
Objekte spricht aus
psychoanalytischer Sicht aber für
eine Beziehungs- und Bindungsunfähigkeit.
Der andere wird nicht als
geliebter Mensch in seiner Ganzheit
wahrgenommen, sondern nur partial
als Bedürfnisbefriediger
"benutzt". In ihrem
geplanten Buch „Entlieben“ geht
Illouz näher ein auf die
Trennungsproblematik und vermutet,
dass die Beziehungspartner meist zu
schnell das Handtuch werfen. Man
gehe auseinander, um dadurch die
eigene Identität zu formen. Die Zurückweisung
des andern werde zur Bestätigung
des eigenen Selbst, also zu einem
Gewinn an Autonomie. Die Modalitäten
der Trennung seien nicht durch
ethische Regeln bestimmt, und so
kann es zu sehr lieblosen und
verletzenden Aktionen kommen, wie
etwa die plötzliche Abschieds-SMS
oder Whatsapp-Nachricht, die zudem
als Zeichen der Unbeholfenheit und
Hilflosigkeit in Beziehungsdingen
anzusehen sind.
Vorhandene
Zusammenhänge zwischen
Deregulierung der Wirtschaft,
Konsumverhalten und entsprechendem
Begehren auf der einen Seite und
Deregulierung der Partnerwahl,
Sexualität als eine Art allgemeine
Metapher des Begehrens auf der
andern Seite, werden erkennbar. Die
„Konsumkultur“ habe zu einer
Kommerzialisierung der Sexualität
geführt, sowie zu einer
„Sexualisierung“ der Körper und
der Beziehungen. Geholfen hätten
dabei die moderne Psychologie und
die Psychoanalyse! Absicht war es
wohl nicht, aber natürlich kann man
deren Erkenntnisse auch
missbrauchen, vermarkten und sogar
zu Werbezwecken benutzen. Sie werden
deshalb nicht falsch, aber immer
wieder kann man gerade bei
gebildeten Frauen eine gehörige
Skepsis gegenüber der Psychoanalyse
feststellen. Handelt es sich
um eine spezifisch weibliche Form
von narzisstischer Kränkung, die möglicherweise
mit der Kastrationstheorie zusammenhängt?
So als hätte S. Freud damit den
Finger in die Wunde gelegt, und das
als Mann! Angeführt wird meistens
der Umstand, dass S. Freud die
„Verführungstheorie“
dahingehend geändert hat, dass er
annahm, die von Frauen erinnerten
Verführungen durch die Väter in
der frühen Kindheit seien überwiegend
Fantasien. Der Sexualwissenschaftler
Volkmar Sigusch
(„Sexualitäten“ 2013) meint,
dass Freud fälschlicherweise den
anatomischen Unterschied zwischen
Frauen und Männern als Ursache des
Minderwertigkeitsgefühls der Frauen
ansah. Vielmehr seien es allein
gesellschaftliche Mechanismen, nämlich
der Sexismus und das patriarchale
Denken, die daran Schuld seien.
Letztere sollte man sicherlich nicht
unterschätzen, aber dennoch wäre
es meiner Meinung nach verfehlt, den
Kastrationskomplex einfach so ad
acta zu legen. Richtig ist, dass
Freud lange Zeit Mühe hatte mit der
weiblichen Sexualität und sie als
einen „dunklen Kontinent“
bezeichnete. Auch von femininer
psychoanalytischer Seite wurde diese
Problematik erkannt und thematisiert
(Christa Rohde-Dachser
1991). Eine fehlende oder nicht
ausreichende soziologische Schulung
kann jedenfalls leicht dazu führen,
dass man die Interaktivität
zwischen individuellen und
gesellschaftlichen, kulturellen Vorgängen
nicht genügend berücksichtigt. Als
Soziologe sieht man das große
Ganze, während man als Analytiker
mehr das Individuelle, Einzigartige
im Fokus hat. Frau Illouz etwa
interpretiert Angst, ausgehend von
einer autobiographischen Erzählung
einer Frau, als Spannung zwischen
dem Verlangen nach Anerkennung und
dem Bedürfnis nach Autonomie. Die
Angst habe in diesem Fall einen „gänzlich
sozialen Charakter“. Abgesehen
davon, dass es auch in dieser
Sichtweise um einen mehr oder
weniger unbewussten inneren Konflikt
geht, wäre die psychoanalytische Klärung
abhängig von der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur,
der individuellen
Entwicklungsgeschichte und der
aktuellen Lebenssituation. Das
Symptom wird als Kompromisslösung
eines intrapsychischen Konflikts
gesehen, aber auch als unbewusstes
„Geständnis“. Die soziologische
Deutung blendet vieles aus und
verengt die Perspektive, wird dem
Einzelfall dadurch nicht gerecht.
Das Unbehagen der Feministinnen an
Freud könnte man auch so erklären,
dass die Psychoanalyse zunächst im
patriarchalen Denken befangen blieb.
Erst durch die Vertiefungen durch C.
G. Jung und Erich Neumann und die stärkere
Beachtung des Mythologischen und des
kollektiven Unbewussten wurde dies
aufgehoben.
Richtig
erscheint bei Eva Illouz die
Annahme, dass sich „ein
allgemeiner Trend zur Entkoppelung
von Gefühlen und Sex“ etabliert
hat, wobei dies vor allem für Männer
zutrifft, und dass dieses
Vorherrschen einer
„entemotionalisierten Sexualität“
zu größeren Schwierigkeiten führt,
die tatsächlichen Gefühle und
Absichten der jeweils Beteiligten zu
interpretieren. Das Verlangen nach
„sexuellen Erfahrungen“ hat sich
natürlich auch vom klassischen Bild
der Ehe entfernt und sich als
Selbstzweck legitimiert. Eine sich
verstärkende
"Bindungsangst", wiederum
hauptsächlich bei Männern, ist
allerorten festzustellen und
spiegelt sich in statistischen
Erhebungen. Ihre größere
emotionale Distanziertheit kann als
Metapher der männlichen Autonomie
angesehen werden, nachdem ihr Status
durch gesellschaftliche Veränderungen
in gewisser Weise untergraben worden
war. Frauen wiederum fühlen sich
inzwischen stärker als früher
durch die „biologische Uhr“
unter Zeitdruck gesetzt und sehen
einer Art „Verfallszeitpunkt“
entgegen, dem Schließen eines
Zeitfensters, was in Verbindung mit
der vermehrt ihnen anheimgestellten
sozialen „Aufgabe“ der
Reproduktion zu einem stärkeren
Bindungswunsch führt. Vielleicht
ist es wirklich so, dass Männer die
Emotionalität der Frauen leichter
kontrollieren können wegen deren
Bindungsbereitschaft. Oft ist es ja
tatsächlich so, dass Frauen von den
Männern mehr Gespräch wollen, mehr
gemeinsame Zeit, mehr Nähe, und
dass den Männern dies eher lästig
ist und sie auf mehr Abstand drängen.
Eva Illouz bringt auch einige sehr
schöne Ausführungen über die
(vormoderne) „verzauberte“
Liebe, die „zugleich spontan und
bedingungslos, überwältigend und
ewig, einzigartig und total“ sei.
Es handle sich um die „völlige
Preisgabe des Selbst gegenüber der
geliebten Person sowie die Möglichkeit
(oder zumindest das Potential) der
Selbstzerstörung und
Selbstaufopferung um jemand anderes
willen.“ Durch die moderne
Rationalisierung der Lebensvollzüge
sei diese „romantische Liebe“
allerdings längst entzaubert
worden, entsprechend den Analysen
des Soziologen Max Weber, der von
einer generellen Entzauberung und
Ernüchterung im Zuge der
neuzeitlichen Verwissenschaftlichung
und Technisierung spricht. Erneut
muss allerdings auch die
Psychoanalyse herhalten, um diesen
Rationalisierungsprozess zu begründen.
Sicherlich kann die
wissenschaftliche Erforschung von
Liebe und Sexualität zu einer
gewissen Ernüchterung beitragen,
aber sie muss die Menschen nicht
daran hindern, „unsterblich“
verliebt zu sein, und die meisten
sehnen sich doch immer noch nach
dieser Art von Liebe. Dass eine
Tendenz zur Selbstaufopferung
heutzutage skeptisch hinterfragt
wird und dass der persönlichen
Autonomie sowie vernunftgeleitetem
Handeln ein hoher Stellenwert eingeräumt
werden, heißt doch nicht, dass in
der Liebe ein Wunsch nach
Entgrenzung und totaler Hingabe fehl
am Platze wäre. Es ist ein großer
Unterschied, ob man eigene Bedürfnisse
immer hintanstellt und sich für
andere „aufopfert“, etwa im
„Helfersyndrom“, oder ob man
bereit ist, für einen geliebten
Menschen sein Leben hinzugeben. Die
Selbstentäußerung ist zwar nicht
ganz ungefährlich, aber sie muss ja
nicht beständig sein. Eine Rückbesinnung
und Re-Zentrierung ist
kompensatorisch immer möglich und
auch angezeigt. Natürlich kann man
den Zustand des Verliebtseins in
gewisser Weise als einen
„krankhaften“ oder
„wahnhaften“ Zustand ansehen,
als eine die Anpassung störende
Projektion, aber doch nur mit einem
Augenzwinkern, denn „Heilung“
ist keinesfalls erwünscht, sie
kommt irgendwann von selbst. Mit
Euripides (um 450) könnte man
sagen, dass die Liebe von allen
Krankheiten noch die gesündeste
ist.
Der Umstand,
dass manches Liebesleid durch überzogene
Erwartungen und dadurch
unvermeidlich entstehende Enttäuschungen
zustande kommt, erscheint ebenfalls
als wichtiger Hinweis, wobei die
durch die Medien belebte und in
"hoher Auflösung"
funktionierende Imagination und
fiktionale Vorwegnahme eine
entscheidende Rolle spielen. Die
Realität bringt meist eine gewisse
Ernüchterung, die nur zeitweilig
durch die Idealisierung der
geliebten Person gemildert werden
kann. Insbesondere durch das
Internet wurde die Möglichkeit von
"interaktioneller und
fiktionaler Emotionalität"
geschaffen, verbunden mit der
Aufrechterhaltung von Beziehungen
durch virtuelle, phantomhafte
Anwesenheiten, wobei es teilweise
gar nicht mehr erforderlich ist, der
anderen Person im realen Leben zu
begegnen, ein Triumph der
Imagination!
Es gibt den
Spruch „Wer liebt, hat immer
recht.“ Es handelt sich dabei wohl
um die Abwandlung eines Ausspruchs
von Augustinus: „Liebe, und dann
tu was du willst!“ Die genau
entgegengesetzte Meinung vertrat
Goethe in „Werthers
Leiden“: “Wer liebt, der hat
immer schon verloren.“ Und in den
„Wahlverwandtschaften“ schrieb
er : „Denn so ist die Liebe
beschaffen, dass sie allein Rechte
zu haben glaubt und alle anderen
Rechte vor ihr verschwinden.„
Nietzsche hingegen meinte: „Was
aus Liebe getan wird, geschieht
immer jenseits von Gut und Böse.“
Für den
Philosophie-Professor Dieter Thomä
gibt es eine einfache Erklärung,
warum in Liebesdingen so oft die
sonst geltenden Regeln verletzt
werden: "In der Liebe geht die
Autonomie des Individuums
verloren". Eine wirklich freie
Entscheidung kann der Liebende
demnach nicht mehr treffen, und es
kann schon mal passieren, dass alle
Sicherungen durchbrennen oder, wie
Freud es formulierte, der Reiter
sich dem durchgehenden Ross überlässt!
In unseren modernen, aufgeklärten
Zeiten muss der Einzelne die große
Spannung zwischen der
Selbstverantwortung und Anpassung
als soziales Wesen einerseits und
der Selbstvergessenheit in der Liebe
andererseits irgendwie ertragen. Natürlich
kann man sich in der Liebe auch täuschen,
sich verirren, blind sein vor Liebe.
Die Ernüchterung und
„Entidealisierung“ lassen nicht
auf sich warten, aus zu viel Nähe
wird spürbare Distanz und manchmal
auch die Trennung, unter Umständen
mit der schon erwähnten Umkehr von
Liebe in Hass und dem jeweiligen
„Rosenkrieg“. Einige Menschen können
den eigenen seelischen Schmerz
leider nur dadurch erträglich
machen, indem sie dem anderen weh
tun. Glückt jedoch nach der Krise
eine „Wiederannäherung“, dann
kann sich im besten Fall aus dem
Verliebtsein ein Gefühl inniger
Verbundenheit und tiefer
Freundschaft entwickeln, das ein
Leben lang anhält und durch nichts
zu ersetzen ist.
Aber auch aus
den Enttäuschungen ist viel zu
lernen, denn man hat sich ja im
anderen getäuscht, Dinge bewusst
oder unbewusst übersehen,
ausgeblendet, die irgendwann zum
Beziehungsabbruch führen, der um so
schmerzlicher ist, je mehr man in
die geliebte Person „investiert“
hatte. Natürlich sind der Liebe
auch Grenzen gesetzt, selbst wenn
sie danach trachtet, solche zu überschreiten,
und es hat immer wieder Menschen
gegeben, die sich getraut haben,
dies zu tun. Denken wir nur an Romeo
und Julia, wo die Liebe stärker war
als Feindschaft und an Bonnie und
Clyde, das gesetzlose Paar auf der
Flucht. Oder an den Film „Harold
and Maud“, wo der
Altersunterschied der Liebe nicht im
Wege steht. Der Schauspieler und
Autor Burkhard Driest ging so weit,
eine Bank zu überfallen, um einer
geliebten Frau zu imponieren, und
musste dafür drei Jahre hinter
Gitter. Später meinte er, dass sich
so zwar ein kurzes Glücksgefühl
einstelle, aber echte Liebe und
Respekt ließen sich auf diesem Wege
nicht erreichen. In einem französischen
Chanson heißt es: "Liebesglück
dauert nur einen Moment,
Liebeskummer hingegen ein ganzes
Leben!" ("Plaisir
d`amour" - Jean-Pierre Claris
de Florian).
Eros gehört in
der ursprünglichen griechischen
Mythologie zu den ersten Göttern.
Nyx, die Nacht, legte in der
Ur-Nacht in der Gestalt eines
dunklen Vogels und befruchtet vom
Wind ein silbernes Ei, und aus ihm
trat der Sohn des wehenden Windes,
ein Gott mit goldenen Flügeln,
hervor, der Gott der Liebe, Eros. In
einer anderen Version entstanden aus
dem Chaos, dem „Gähnen“, Gaia,
die Erdgöttin, und Eros, der schönste
unter den Unsterblichen, der die
Glieder löst und den Geist aller Götter
und Menschen beherrscht. Eros wurde
auch gleichgesetzt mit dem
orphischen Schöpfergott Phanes oder
Phaeton, dem "erstgeborenen
Leuchtenden", dem
„Protogonos“, der aus dem
Welt-Ei hervorging, und mit Helios,
dem Sonnengott (Karl Kerényi:
„Die Mythologie der Griechen“
1994) .
Es gibt einen
Schatten des Eros, namens Anteros.
Er ist der Bruder des Eros und
gleichzeitig der Gott der
Gegenliebe, der Rächer der verschmähten
Liebe. Aphrodite gebar ihn als
Kontrahenten, da sie annahm, dass
ihr Sohn Eros (Version des
Apollonius von Rhodos) nur so
wachsen könne. Als Rachegott trägt
er den Beinamen Alastor. Dem Anteros
Alastor war nahe der Akropolis von
Athen ein Altar geweiht, und
Pausanias
erzählt dazu die Legende, dass ein
Athener Bürger namens Meles die ihm
von dem Metöken Timagoras
entgegengebrachte Liebe nicht nur
zurückwies, sondern ihn auch noch
aufforderte, von der Akropolis zu
springen, als Beweis seiner Liebe,
was Timagoras dann auch tat. Als
Meles die Folgen seines Verhaltens
sah, wurde er derart von Reue
geplagt, dass er gleichfalls von der
Akropolis sprang. Liebe und Hass,
Liebe und Tod sind eng miteinander
verbunden. Höchste Glückseligkeit
kann gefolgt sein von abgrundtiefer
Verzweiflung, etwa durch Zurückweisung,
durch Trennung oder einen zerstörerischen
Rosenkrieg. Schon Empedokles hatte
erkannt, dass Liebe (philia) und
Streit oder Hass (neikos) die
Ursachen allen Weltgeschehens sind,
die in unablässigem Kampf
miteinander stehen, in einem ewigen
Siegen und Unterliegen. Zur Verknüpfung
zwischen Liebe und Tod gibt es eine
mythologische Grundlage, die im
Mysterienkult von Eleusis zum
Ausdruck kam. Dem Raub der Kore
Persephone durch Hades entspricht
symbolisch die Ablösung der Tochter
von der Mutter (Demeter) und die
Vermählung mit einem Mann (Thema
Brautraub), und dieser Vorgang wird
durch den Abstieg in die Unterwelt
mit dem Tod gleichgesetzt. Tod
insofern, als dem Schicksal
anheimfallend und doch auf dem Höhepunkt
des Lebens stehend. Darüber hinaus
geht es um das Wissen mit dem Inhalt
„Sein im Tod“. Auch Paris, der
das Angebot von Aphrodite annimmt
und die Liebe wählt, nicht aber
Macht, Reichtum oder Ruhm, erfährt
genau dadurch die Rache der beiden
anderen mächtigen Göttinnen.
Krieg, Zerstörung, Leid und Tod
sind die Folge. Michael Balint
(„Die Urformen der Liebe und die
Technik der Psychoanalyse"
1966) hat gezeigt, dass es auch
einen biologischen Zusammenhang
gibt: vegetative Einzeller sind
theoretisch unsterblich, da sie sich
durch Zellteilung beliebig oft
vermehren können. Die
geschlechtliche Fortpflanzung bei höher
Entwickelten bringt Individualität,
Begattung und Orgasmus, dafür aber
den Tod. Obwohl ich Balint hier
zitiere, halte ich viele seiner
Annahmen und Behauptungen in dem erwähnten
Buch für überholt oder fragwürdig.
Zusammenfassend
wäre festzustellen, dass man die
Liebe trotz allem wagen sollte, denn
sie gehört zu einem erfüllten
Leben und zu einer gelingenden
Individuation, aber man muss sich
der Gefahren bewusst sein, die mit
ihr verbunden sind und auch der
(lohnenden) Mühen, die für ein
Gelingen und ein Überwinden von
Krisen erforderlich sind. Wenn wir
es wagen, über die Liebe zu
schreiben, so muss uns bewusst sein,
dass es sich um ein Gefühl handelt,
ein aktives, gerichtetes, im Sinne
von lieben oder ein passives im
Sinne von verliebt sein. Das Denken
und das begriffliche Formulieren
kann das Fühlen nie völlig in
seinem Wesen erfassen, und somit
bleibt all unser Philosophieren nur
an der Oberfläche des Phänomens.
Jeder weiß aber, was gemeint ist,
und kann sich selbst auf seine Art
zu lieben und verliebt zu sein stützen,
um zu begreifen, was die Worte zu
umschreiben versuchen. Im weitesten
Sinne bedeutet Eros die Bezogenheit
auf das andere, auf die oder den
anderen, sowie die damit verbundenen
Gefühle, Impulse und Ahnungen.
Letztlich ist Eros ein Numinosum,
eine archetypische Vorstellung, und
keiner kann das Geheimnis einer
wirklich tiefen Liebeserfahrung voll
erfassen. „Wer
sich dem nicht hingeben kann, der
hat nie gelebt, und wer darin
untergeht, hat nichts verstanden.“
(Marie-Louise von Franz)
Sicherlich kann
man mit Volkmar Sigusch
(2013) sagen, dass die Liebe in
gewisser Weise eine kulturelle
Mystifikation darstellt, aber auch
die unverzichtbarste, da sie sich
der Ökonomisierung unserer
Lebensverhältnisse entgegenstellt,
sowie der zunehmenden sozialen Kälte
und Verdinglichung. Auf die Frage,
wie man denn sicher sein könne,
geliebt zu werden, antwortet
Sigusch: „Wenn du in den Armen
einer anderen sterblichen Person wie
ein kleines Kind weinen kannst, ohne
ein Gefühl der Scham.“
„Ein Mensch,
der nicht durch die Hölle seiner
Leidenschaften gegangen ist, hat sie
auch nie überwunden.“
C. G. Jung:
„Erinnerungen –Träume –
Gedanken“
3. Narzisstische Wut und Hass
Einige Worte
zum „Narzissmus“: Meist denkt
man dabei an eine Art
Selbstverliebtheit, die Neigung zur
Selbstbespiegelung und Eitelkeit.
Psychoanalytisch gesehen sind wir
aber hier schon im Bereich des gestörten
Narzissmus oder des Sekundärnarzissmus.
Der sogenannte Primärnarzissmus
hingegen ist in seiner gesunden
Ausprägung eine notwendige
Grundlage des Selbst, das
"narzisstische Selbst", um
sich und andere lieben und annehmen
zu können so wie sie sind und um
Mitgefühl zu empfinden. Es gibt
aber narzisstische Kränkungen und
narzisstische Störungen mit möglicherweise
fatalen Auswirkungen. Die gelungene
Integration des narzisstischen
Selbst in das Ich zeigt sich, gemäß
den Forschungen von Heinz Kohut,
insbesondere in schöpferischer
Begabung und Aktivität, in Einfühlungsvermögen,
in der Fähigkeit, die Begrenztheit
des eigenen Lebens ins Auge zu
fassen, wobei auch die Vergänglichkeit
von Objektbesetzungen und
Trennungserlebnisse miteinbezogen
werden und keine Resignation und
Hoffnungslosigkeit aufkommen wird,
sondern eine ruhige Gewissheit und
Annahme der Endlichkeit, verbunden
mit einem gewissen inneren Gefühl
des Triumphes, bei gleichzeitiger
unverleugneter Traurigkeit, im Sinn
für Humor, der eine nur dem
Menschen zur Verfügung stehende Möglichkeit
ist, sogar das eigene Ende zu
relativieren, etwa im
"Galgenhumor", und in der
Weisheit, die insbesondere darin
besteht, dass man die Grenzen der
eigenen Kräfte und Fähigkeiten
anerkennt, und die alle zuvor
genannten Einstellungen und
Eigenschaften der gereiften Persönlichkeit
mit beinhaltet.
Narzissmus ist
für den Psychoanalytiker nichts
Negatives, im Gegenteil. Er gehört
zur normalen Ausstattung eines jeden
Individuums, und er bildet sich aus
in der frühesten Kindheit, wobei
der liebende Blick der Mutter und
des Vaters oder anderer wichtiger
Bezugspersonen von entscheidender
Bedeutung sind. Dieses
„Gespiegeltwerden“ ist die
Grundlage des Selbstwertgefühls,
der Selbstachtung und der Liebe zu
sich selbst, also des Narzissmus in
seiner „gesunden“ Ausprägung.
Problematisch wird es, wenn ein
Zuviel oder Zuwenig an Spiegelung
oder Bestätigung stattfinden oder
wenn sogar erhebliche
„narzisstische Kränkungen“ das
Selbst unterminieren. Dann kann es
zu einer krankhaft überhöhten
Selbstwahrnehmung kommen, zu
Fantasien der „Grandiosität“,
um die Gefahr der Entwertung und
entsprechende depressive Gefühle
abzuwehren, oder es kommt zu einer
übersteigerten Empfindlichkeit
gegenüber Kränkungen jeglicher Art
und einer damit einhergehenden
Beziehungsunfähigkeit, da zumindest
kleinere Kränkungen im Umgang mit
anderen nie ausbleiben. Liebe kann
dann sehr schnell in Hass
umschlagen, und der zuvor
Idealisierte wird nun völlig
entwertet fallen gelassen oder sogar
verfolgt. Nur wenn es gelingt, den Symbolwert des Objekts zu erkennen und die
Projektion zurückzuziehen, ist eine
gelungene Ablösung möglich! Man
kann also jemanden zunächst lieben und
ihn dann zerstören, um ihn zu
beherrschen. Gefährlich wird es
zudem, wenn das Subjekt auf der
narzisstischen Stufe stehen bleibt.
Die Selbstzentrierung ist ein
notwendiger Schritt auf dem Weg zur
Autonomie, weg von der uroborischen
Verschmelzung und der festhaltenden,
verschlingenden Großen Mutter, hin
zu Selbstgestaltung und zunehmender
Ich-Festigkeit. Im Mythos verfällt
Narkissos, von der Nemesis bestraft
wegen seiner herzlosen Zurückweisung
von weiblichen und männlichen
Liebhabern, seinem eigenen
Spiegelbild und geht zugrunde. Er
wird das Opfer der Aphrodite, der
"Großen Mutter", die ihn
in seinem eigenen Spiegelbild verführt
und vernichtet. Die sich selbst
spiegelnde Reflexion des Ich, das
sich von der Macht des Unbewussten
befreien will, wird zu einer
Untergang bringenden Selbstliebe
(Erich Neumann:
„Ursprungsgeschichte des
Bewusstseins“ 1974). Man könnte
auch von einer Spiegelung der Anima
sprechen, die als Projektion auf
eine geliebte Person immer auch mit
dem Selbst verbunden ist. In der
hermetischen Philosophie wiederum
gibt es die Vorstellung vom
"himmlischen Anthropos",
dem "Lichtmenschen" der
Gnosis, der sich im Wasser, in der
dunklen Materie spiegelte, und sich
in sie, in die "niedere Natur",
verliebte. Diese wiederum verliebte
sich in ihn, und so vereinigten sich
beide. Die Vereinigung zwischen
Himmel und Erde und deren anschließende
Trennung sind Bestandteil
zahlreicher Schöpfungsmythen.
Bei Otto F.
Kernberg und insbesondere bei Heinz
Kohut
finden sich Ausführungen über die
Störungen des Narzissmus, wobei der
letztere sich speziell zur
"narzisstischen Wut" geäußert
hat: "Der narzisstisch Gekränkte
aber kann nicht ruhen, bis er den
unscharf wahrgenommenen Beleidiger
ausgelöscht hat, der wagte, ihm
entgegenzutreten, nicht mit ihm übereinzustimmen
oder ihn zu überstrahlen."
Entwertung bedeutet also eine unverhältnismäßig
negative Bewertung eines Objektes
oder einer Objektrepräsentanz zum
Zweck der Erhöhung oder
Stabilisierung des eigenen
Selbstbildes. In diesem Zusammenhang
verweist Kohut zudem auf das
Rachethema und dessen literarische
Verarbeitung in den Werken des
Heinrich von Kleist "Michael
Kohlhaas", wo von "schäumender
Wut" die Rede ist, von der
"Hölle unbefriedigter
Rache" und vom zunehmenden Größenwahn
des Gekränkten, dessen Frau und er
selbst letztlich umkommen, und
Herman Melvilles "Moby
Dick": Kapitän Ahab verfolgt
so lange seinen
"Intimfeind", den großen
Wal, bis er selbst und sein Schiff
untergehen. Auch in Kleists
"Penthesilea" geht es um
rasende Wut, die im Kampf gegen den
eigentlich geliebten Achilles
letztlich zu dessen Zerfleischung
und Vernichtung führt, wobei es die
Herrscherin der Amazonen erst gar
nicht glauben will, dass sie für
diese Tat verantwortlich ist und
sich schließlich selbst richtet, um
dem Geliebten in den Tod zu folgen.
Alles passierte wie in einem Traum,
aus dem sie erwacht und zunächst
bei anderen die Schuld sucht. Im
Mythos war es allerdings Achill, der
Penthesilea im Kampfe mit dem
Schwerte erschlug, sich in sie
verliebte, als er ihr den Helm
abnahm und seine Tat bedauerte. Der
Autor Navid Kermani
(2012) meint, dass es sich bei
Kleists Penthesilea auch um die
Inszenierung einer archaischen Form
von Liebe handelt, um
Besitzergreifung, Machtausübung, um
ein Sich-einverleiben-Wollen des
Andern bis hin zum kannibalischen
Akt. "Sie will ihn mehr als nur
mit Leib und Leben besitzen, sie
will ihn ganz und gar in sich
aufnehmen..." Die Abspaltung
der Penthesilea geht überdies noch
weiter, da sie nicht nur das eigene
Handeln verleugnet, sondern auch
noch von zwei Tätern ausgeht:
einer, der Achill ermordete und ein
anderer, der ihn verschlang. Dem
einen will sie vergeben, aber dem
anderen nicht, da sie in ihm einen
Nebenbuhler sieht, der Achill
geliebt haben muss. Kermani sieht
sogar einen Bezug zum Abendmahl:
"Nehmt, das ist mein Leib! Das
ist mein Blut!" Kleist
vergleiche Achill mit Christus:
"Ach, diese blutgen Rosen! Ach,
dieser Kranz von Wunden um sein
Haupt!"
In der
griechischen Mythologie gibt es eine
beispielhafte Geschichte über die
der narzisstischen Wut
zugrundeliegende Kränkung. Die
Götter waren zwar unsterblich, aber
doch verwundbar, und Homer berichtet
von Hera und ihrem unheilbaren Leid,
nachdem ein Pfeil des Herakles sie
an der Brust verletzt hatte. Karl
Kerényi
("Prometheus") geht davon
aus, dass Homer und nachfolgende
Dichter weniger den körperlichen
Schmerz meinten, sondern ein
"ewiges Beleidigtsein“, die
„unheilbare Wunde im Herzen der göttlichen
Juno" (Vergil), wobei die
menschliche Verwundbarkeit im Mythos
auf das Göttliche projiziert
erscheint. Und Reinhard Haller
erwähnt in seinem Buch „Die Macht
der Kränkung“ (2015) ganz
richtig, dass bei narzisstisch Gestörten
die Nachhaltigkeit von Kränkungen
ganz
besonders ausgeprägt sei.
In einer
Geschichte aus dem kretischen Mythos
richtet sich die narzisstische Wut
gegen denjenigen selbst, der die
Liebe eines anderen verschmäht und
ihn durch scheinbar unlösbare
Aufgaben in den Tod schicken will:
„Erster-in-der-Schlacht und
Blond-Mähne“ (Andrew Calimach,
2014). Ein egozentrischer Jüngling,
der sich gegenüber der Liebe eines
tapferen Mannes unempfänglich
zeigt, wird von Eros bestraft und
begeht am Ende Selbstmord. Calimach
schließt daraus, dass in der
griechischen Päderasten-Tradition
die Weigerung eines Jungen, sich auf
Liebesaffären mit guten Männern
einzulassen, als Affront gegen den
Gott der Liebe und als virtueller
Selbstmord angesehen wurde.
Kohut spricht
von der möglichen Ausbildung einer
"chronischen narzisstischen
Wut", die er als die
Entwicklung eines "der bösartigsten
Übel des menschlichen
Seelenlebens" ansieht, als eine
die ganze Persönlichkeit
durchdringende Haltung. Diese kann
dann zu wohlorganisierten Feldzügen
führen, die als Ausdruck einer
endlosen Rachsucht mit endloser
Leidenschaft in Gang gehalten
werden. Es geht um Machtausübung
(Omnipotenz) und Gewalt, um absolute
Kontrolle und Beherrschung des
Selbstobjektes. Von Konfuzius stammt
der Ausspruch: „Bevor du dich auf
eine Reise der Vergeltung begibst,
hebe zwei Gräber aus.“ Die TV-
Serie „Revenge“ (2011) stellte
diese Worte an den Beginn und zeigt,
wie Unrecht mit immer wieder neuem
Unrecht begegnet wird und ein
Kreislauf der Zerstörung in Gang
kommt, wenn es nicht um Vergebung,
sondern um Vergeltung geht. Die
Philosophin Martha Nussbaum meint in
ihrem Buch „Zorn und Vergebung. Für
eine Kultur der Gelassenheit“
(2017), dass Rache und Vergeltung
dem magischen Denken entspringen, nämlich
der Vorstellung, dass dadurch
erlittenes Unrecht wieder geheilt
werden könne.
In diesem
Zusammenhang soll daran erinnert
werden, dass es in der Geschichte
immer wieder dazu kam, dass
bestimmte Menschen oder Gruppen
entwertet oder gar entmenschlicht
wurden, und wohin das führte!
Narzisstisch gestörte Machthaber
haben Völker und fast die ganze
Welt ins Chaos gestürzt, mit
unendlich viel Leid und Zerstörung!
Kennzeichnend für narzisstisch Gestörte
ist vor allem das völlig fehlende
Mitgefühl und Einfühlungsvermögen,
insbesondere gegenüber der Person,
gegen die sich die Wut richtet, ohne
Rücksicht auf die Folgen und mögliche
Kollalateralschäden. Sie können
nicht das geringste Verständnis für
ihre Gegner aufbringen! Der Theologe
Karl Rahner hat den Narzissten mit
einem Ofen verglichen, der nur sich
selbst wärmt. Für andere bleibt
nichts mehr übrig! Fehlende
Empathie einer Mutter gegenüber den
Bedürfnissen eines Kindes kann bei
diesem ebenfalls zu einer
narzisstischen Störung führen! Es
wird berichtet, dass bei manchen
Soziopathen zwar ein stark ausgeprägtes
Gespür vorhanden zu sein scheint für
das, was in anderen vorgeht, aber es
handelt sich hierbei nicht um Mitgefühl
oder gar Mitleid, und diese Fähigkeit
wird ausschließlich zum eigenen
Vorteil genutzt. Man muss also mit
Paul Ekman
(2007) wohl unterscheiden zwischen
einer rein „kognitiven“ und
einer „emotionalen“ Empathie.
Bei ersterer erkennt man, was der
andere fühlt, bei letzterer fühlt
man, was der andere fühlt. Die
Untersuchungen des französischen
Hirnforschers Christian Keysers bez.
der Spiegelneuronen legen wiederum
nahe, dass manche Menschen die Fähigkeit
haben, Empathie beliebig an- und
auszuschalten. Bei
„Psychopathen“ sei sie in der
Regel ausgeschaltet, aber sie können
sich sehr gut in andere einfühlen,
wenn es darum geht, sie für ihre
Zwecke zu manipulieren. Auch die
Angehörigen bestimmter
Berufsgruppen sollen demnach gelernt
haben, das Mitgefühl zeitweilig
auszuschalten, etwa Zahnärzte,
sinnvollerweise.
Störungen des
Narzissmus lassen sich behandeln,
und sie sind Bestandteil von vielen
psychischen Störungen, insbesondere
der Persönlichkeitsstörungen und
der Depression. Wichtig ist die
"korrigierende Erfahrung",
also die zuverlässige Bestätigung
und Wertschätzung durch einen
anderen Menschen oder den
Psychotherapeuten, der ja wie ein
Spiegel wirken soll, in dem sich der
andere findet und neu konstituiert. Auf
diese Weise ist es möglich, die
„ontologische Verankerung"
(Simon May )
herzustellen, nämlich das Gefühl,
in der Welt zu Hause zu sein.
Es gab zuletzt
einige Publikationen über die
narzisstische Persönlichkeitsstörung,
darunter auch Bestseller. Eine davon
ist betitelt: „Rote Karte für
Narzissten: Beziehung und Trennung
überleben.“ Die Autorin heißt
Dr. Claudia Schlembach .
Das Buch könnte interessant sein,
aber es wird alles aus der
Perspektive einer Frau gesehen, nach
dem bekannten Muster: Männer sind Täter,
Frauen sind die Opfer. Es ist nur
ein einziges Mal von narzisstischen
Frauen die Rede, und zwar im
Zusammenhang mit Paaren von zwei
Narzissten, die jedoch eher selten
sein dürften, da der oder die
narzisstisch Gestörte sich ja in
der Regel einen Partner sucht, der
lieber gibt als nimmt, wie es
richtig beschrieben wird. Wäre das
Buch eine Art von Autobiografie, könnte
man das noch nachvollziehen, aber
die Dinge werden verallgemeinert,
und es ist immer nur die Rede von
„ihm“. Richtiger wäre es
gewesen, vom narzisstischen Partner
zu reden, ohne Festlegung auf Mann
oder Frau. So aber ist das Buch
einseitig und tendenziös, leider!
Die Autorin hat offenbar auch mehr
Ahnung von Business und
Verkaufstaktiken als von Psychologie
und insbesondere Psychopathologie.
In einem persönlichen Austausch
schrieb mir die Autorin, dass sie
ganz bewusst nur einen männlichen
Narzissten vorstellen wollte, ohne
diskriminierende Absicht! Über den
weiblichen Narzissmus und den
„Hunger nach Anerkennung“ hat u.
a. Bärbel Wardetzki
geschrieben, die in ihrer Arbeit mit
bulimischen Frauen auf dieses Phänomen
gestoßen ist.
Es war hier
noch nicht die Rede von den großen
narzisstischen Kränkungen der
Neuzeit, aus einer übergeordneten
Perspektive betrachtet. Zu nennen wäre
einmal die „kopernikanische
Wende“, die den Mittelpunkt nicht
mehr länger in der „Welt“ sah,
sondern zunächst im Zentralgestirn,
ganz zu schweigen vom Kosmos, in dem
wir nur ein Staubkorn sind. Dann die
darwinsche Lehre von der
„Abstammung der Arten“, als die
Menschheit erkennen musste, dass sie
gar nicht so weit entfernt ist vom
Tierreich und lediglich zu den höheren
Säugetieren gehört. Und schließlich
die Erkenntnisse von Sigmund Freud,
dass wir gar nicht Herr im eigenen
Hause sind, sondern vom Unbewussten
weitgehend gesteuert werden. Hinzu
kommt, dass durch die
Tiefenpsychologie insgesamt ein
Einbruch der Schattenseite ins
kollektive Bewusstsein erfolgt ist,
der
ein gewisses Gefühl der
Entwertung mit sich brachte, obwohl
die Annahme der „dunklen Seite“
in Wahrheit gar keinen Wertverlust
darstellt.. Für das Selbstverständnis
und das Selbstbewusstsein der
Menschen waren dies jedoch harte
Schläge, die längst nicht
verarbeitet sind und zu Recht eine
Haltung der Demut und Besonnenheit
bedingten, die schon die antiken
Denker anmahnten. Der Philosoph
Heiner Mühlmann
nennt in „Natur der Kulturen“
(1996) noch weitere Kränkungen, wie
die Quantentheorie, die künstliche
Intelligenz, die Genetik, die Ökologie,
um nur einige zu nennen. Der
„kulturelle Narzissmus“ musste
immer wieder ins Gleichgewicht
gebracht werden durch
kompensatorische Mechanismen und
Neuinterpretationen der Stellung des
Menschen in der Welt und im Kosmos.
Die metaphysisch begründete Selbstüberhöhung
und der Glaube an eine
Sonderstellung im All werden durch
die Kränkungen hinfällig. Dies
sollte zu einer Verringerung von
zwischenmenschlichen Konflikten und
zu mehr Solidarität und
Zusammenhalt führen. Davon ist
bisher leider nicht viel erkennbar!
Um dies zu begreifen, muss man keine
sich verselbstständigenden
„Makrostrukturen“ und kein
„kulturelles Hypersubjekt“, mit
aggressiver und übermächtiger
Dynamik postulieren. Ein plausibles
Erklärungsmodell bietet C. G. Jung
mit seiner Annahme des kollektiven
Unbewussten und der Konstellierung
von Archetypen, die ganz unabhängig
vom rationalen Erfassen das
Verhalten von Menschen und
Gesellschaften beeinflussen. Diese
Annahmen wurden von Mircea Eliade
(„Kosmos und Geschichte. Der
Mythos der ewigen Wiederkehr.“
1949) bestätigt, der etwa im
Mythos der aus mittelalterlich
skandinavischen Quellen bekannten
„berserkir“ oder „beriserkre“,
der mit einem Bärenfell bekleideten
„wilden Krieger“, das Urbild des
„furor“, der rauschhaften,
„heiligen Wut“ verkörpert
sieht. Er weist darauf hin, dass
jeder Konflikt, jedes Duell und
jeder Krieg keinesfalls
rationalistisch zu erfassen seien,
sondern dass immer die rituelle
Bedeutung und die damit verbundene
Belebung eines Archetypus berücksichtigt
werden müssen. Der Krieger ahmt
einen "Heros" nach und
versucht, sich diesem Vorbild so
weit wie möglich anzunähern. Durch
jede Wiederholung einer
archetypischen Handlung wird die
„profane Zeit“ aufgehoben, und
der Handelnde wird Teilhaber der
mythischen Zeit. Es handelt sich um
die Suche nach dem wirklichen und
wahren Sein und um die Angst, in die
Bedeutungslosigkeit einer profanen
Existenz zu versinken. Diese
Erkenntnisse gewinnen gerade aktuell
eine große Bedeutung hinsichtlich
des „Heiligen Krieges“ von
radikalen Islamisten! „Heilige
Wut“ erfasste auch Moses, gemäß
der in erster Linie symbolisch zu
verstehenden Sinaigeschichte, als er
sein Volk um das goldene Kalb tanzen
sah und ein Massaker an den Abtrünnigen
anordnete. Die Gefahr von gewaltförmigen
Auswüchsen bei religiösen Überzeugungen
wird hier ersichtlich, vor allem,
wenn von „Auserwählung“ und
Singularität die Rede ist.
Anzumerken ist
hier allerdings, dass es Vorformen
des Krieges schon bei den
Schimpansen gibt. Jane Goodall
entdeckte, dass diese manchmal überfallartig
Mitglieder benachbarter Gruppen
angreifen, um sie zu töten.
Innerhalb der Gruppe finden
Aggressionen hauptsächlich zwischen
rivalisierenden Männchen statt.
4. Schuldfähigkeit und der
freie Wille
Der
amerikanische Neurowissenschaftler
David Eagleman
erforscht die Verhaltenssteuerung
und die Zusammenhänge zwischen
Wahrnehmung, Bewusstsein und
Handeln, wobei die Relevanz für die
Rechtssprechung und das Umgehen mit
Straftätern aller Art auf der Hand
liegt. Die neuesten
Forschungsergebnisse bestätigen zum
Teil eindrucksvoll die Theorien von
Sigmund Freud, relativieren sie aber
auch teilweise, etwa im Hinblick auf
das „Ich“. Eagleman jedenfalls
betrachtet das „Ich“ nur noch
als ein Märchen. Es gebe eher ein
„Wir“, und unsere Handlungen
seien das Ergebnis von „inneren
Verhandlungen“, bei denen
verschiedene neuronale Schaltzentren
miteinander interagieren und wir
„einen gewissen Einfluss“ auf
das Endergebnis haben, mehr nicht.
Wir sind also sozusagen nur „am
Rande des Universums“, wobei er
den Vergleich mit der Kosmologie wählt,
nicht im Mittelpunkt, und bekommen
relativ wenig mit vom Geschehen.
Unser Eindruck, dass wir die
Kontrolle haben und eigene
Entscheidungen treffen können, wäre
demnach nur eine Illusion. Im Umgang
mit Straftätern wird entsprechend
immer weniger der Aspekt des
Bestrafens, der Sühne, der
Abschreckung und der damit
verbundene Bezug zur Ethik im
Vordergrund stehen dürfen, sondern
die Frage des Helfens und
Therapierens, wobei natürlich der
Schutz der Allgemeinheit weiterhin
eine wichtige Rolle spielen wird,
wie auch eine angemessene
Wiedergutmachung.
"Therapieren" sollte nicht
mit Zwangspsychiatrisierung
verwechselt werden! Das
"gesunde Volksempfinden"
sollte jedenfalls nicht die
Richtschnur der Gesetzgebung sein!
Vor allem die Begriffe Schuld und
Verantwortung müssen neu überdacht
werden und damit einhergehend natürlich
auch die Begriffe Schuldfähigkeit
bzw. Schuldunfähigkeit. Es geht
hier wohl um Grenzbereiche zwischen
Naturwissenschaft und Philosophie,
und man könnte Eagleman wie auch
anderen Hirnforschern vorwerfen,
dass sie ihre Kompetenzen überschreiten.
Man spricht in diesem Zusammenhang
von „Reduktionismus“, von einem
„Kategoriensprung“ zwischen
Materiellem und Mentalem. Einwenden
kann man insbesondere, dass die
unter Laborbedingungen untersuchten
Handlungsabläufe nicht unmittelbar
auf komplexe Entscheidungen im
Alltag wie etwa die Berufswahl übertragen
werden können. Zwischen Absicht,
Planung und Ausführung liegen hier
längere Zeiträume. Es handle sich
um einen „Kategorienfehler“ zu
sagen, „das Gehirn“ entscheide
und nicht der Mensch, denn schon
Aristoteles wies darauf hin, dass es
falsch sei, zu sagen „die Seele
ist zornig“. Richtig sei vielmehr:
„Der Mensch ist zornig kraft
seiner Seele“. Also müsste es heißen:
Der Mensch entscheidet mittels
seines Gehirns, oder wie es der
Hirnforscher Gerhard Roth
(2004) formuliert: „Das Gehirn
nimmt die subjektiv empfundene
Entscheidung vorweg.“ Er schätzt,
dass uns weniger als 0,1 Prozent
dessen, was das Gehirn tut, aktuell
bewusst wird! Der enorme Rest wird
unbewusst erledigt. Das Unbewusste
kann somit eine Vielzahl von
Informationen gleichzeitig
verarbeiten. Der
Neurowissenschaftler Lüder Deeke ,
der 1964 als Student das
„Bereitschaftspotential“
entdeckte, hat mittlerweile
Experimente mit Bungeespringern
durchgeführt und kommt zu dem
Schluss: „Mein Gehirn kann nicht
gegen mich sein. Mein Gehirn – das
bin doch auch ich!“ Hatte er ursprünglich
das „Bereitschaftspotential“
als unbewussten Vorgang angesehen,
so belehrten ihn die neuen Befunde
eines Besseren. Was natürlich nicht
heißen muss, dass es keine
unbewussten Vorgänge gibt!
Der
Sozialpsychologe John Bargh
(„Vor dem Denken“ 2017) konnte
in seinen Untersuchungen die Macht
unbewusster Vorgänge, kultureller
Prägungen und unseres evolutionären
Erbes aufzeigen, schloss aber
bewusste Kontrolle nicht aus. Die
Frage sei letztlich, in wie weit
unser Verhalten von „innen“
gesteuert wird. Dem Bewusstsein
falle es allerdings sehr schwer,
anzuerkennen, dass andere Kräfte
mit im Spiele sind.
Interessanterweise scheinen gerade
jene, die unbewusste Faktoren am stärksten
leugnen, am anfälligsten zu sein für
Manipulation. Wichtig sei die
Zeitdimension: „der Geist“
existiere, wie das gesamte
Universum, gleichzeitig in
Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft, wobei diese teilweise im
Verborgenen liegen, in einer Art
multidimensionaler Zeitschleife.
Leider definiert der Autor den
Begriff „Geist“ nicht, und seine
Absicht, „das wahre Wesen des
menschlichen Geistes aufzudecken“,
ist wohl eine Art von Hybris, und
auch ihn könnte die Nemesis
ereilen! Seine Kritik an der
Psychoanalyse und Freud ist (wieder
einmal) zu oberflächlich, etwa wenn
er behauptet, Freud habe das
Unbewusste als ein unangepasstes
System angesehen. Seinen Traum vom
Alligator, der aus dem Sumpf und dem
schwarzen Wasser auftaucht, könnte
man noch ganz anders deuten, als der
Autor es tut. Es geht zwar auch,
aber nicht nur um das Unbewusste,
welches zuerst da ist, sondern vor
allem um eine archetypische
Vorstellung, die mit dem Schöpfungsmythos
zu tun hat, ähnlich wie die
Schildkröte, und die bei den Ägyptern
als Wasser- und
Fruchtbarkeitssymbol heilig war
(Gott Sobek mit Krokodilskopf). Das
Krokodil kann andererseits als
Symbol negativer, aggressiver
Impulse gesehen werden. Interessant
in diesem Zusammenhang ist, dass die
Iatmul auf Neuguinea glaubten, dass
ein Krokodil auf den Grund des
Urmeeres tauchte, Schlamm empor
holte und aus diesem eine Insel
formte. Dies erinnert an das Bild,
das C. G. Jung gebrauchte, um die
Beziehung zwischen dem Bewussten und
dem Unbewussten darzustellen: eine
kleine Insel inmitten des Ozeans.
Symbolisch wäre demnach das
Krokodil für die Entstehung des
Bewusstseins verantwortlich! Auch in
einer Krokodillegende aus Osttimor
(„Das gute Krokodil“) entsteht
eine Insel, und das Krokodil erweist
sich als hilfreiches Tier! Die
Tolteken (Mexiko) glaubten an
Cipactli, erst Fisch, dann
Krokodilungeheuer, eine dunkle
Fruchtbarkeitsgöttin, die nach
Menschenherzen und Blut verlangte,
Ursprung der Menschenopfer Aus ihr
entstand die Welt nach der
Aufspaltung durch die zwei göttlichen
Schlangen in Erde und Himmel. Möglicherweise
ist dem Autor also die tiefer
liegende und weiter gehende
Bedeutung seines Traumes nicht klar
geworden, da er sich mit der
naheliegenden Sinngebung zufrieden
gab.
Grundsätzlich
kann festgehalten werden, dass das
Wollen als Willensakt, der einer
bewussten, zielgerichteten Tätigkeit
vorausgeht, ein beobachtbares
psychisches Phänomen ist, die
Willensfreiheit dagegen nicht. Sie
ist nur als Überzeugung oder Glaube
eine beobachtbare Erscheinung und
gehört somit vor allem in den
Bereich der reinen
Geisteswissenschaft, insbesondere
der Philosophie. Kaum
jemand weiß, dass bis ins 16.
Jahrhundert und sogar noch 1916 und
1994 auch Tiere vor Gericht gezerrt
und abgeurteilt wurden, und man
ihnen somit Schuldfähigkeit
zusprach, auch wenn es angeblich nur
dem biblischen Auftrag entsprochen
habe, sich die Erde untertan zu
machen. Historiker vermuten
allerdings, dass Allmachtsfantasien
von über-eifrigen Juristen die
Ursache waren, die alles dem Recht
unterordnen wollten. Passend dazu
praktizierte die katholische Kirche
zu dieser Zeit noch Tierbannungen
und Exorzismen.
Analog zur
Willensfreiheit wurde seitens der
Verhaltenspsychologie, etwa von
Skinner und von Kahnemann, auch die
Autonomie als eine Erfindung und
Anmaßung angesehen, die letztlich
zu Denkfehlern, fehlerhaftem
Verhalten und falschen
Entscheidungen führten. Durch eine
geeignete Verhaltensanalyse und
-kontrolle müsse den Menschen
demnach „geholfen“ werden, um
das Irrationale auszuschalten und
sie so "umzuformen". Die
politische Umsetzung des „libertären
Paternalismus“ ließ nicht lange
auf sich warten, und eine staatliche
Bevormundung und Missachtung der
individuellen Autonomie waren die
Folge! Das Thema des "freien
Willens" wurde bereits von Kant
ausgiebig behandelt, und er ging
u.a. von einem „a priori“ aus,
dass also der sog. kategorische
Imperativ unserem Bewusstsein
unmittelbar und absolut gegeben sei.
Wir sollen nur nach Grundsätzen
handeln, die wir auch
verallgemeinern und die Allgemeingültigkeit
beanspruchen könnten. Der Mensch
hat zudem als solcher einen
absoluten Wert und darf niemals nur
als Mittel, sondern immer auch als
Zweck behandelt werden. Die
Willensfreiheit oder die
„Autonomie des Willens“ besteht
demnach in der Fähigkeit, sein
Handeln nach diesem inneren Gesetz
auszurichten, indem der Wille keinem
fremden, sondern dem eigenen Gesetz
folgt. Es gibt logischerweise einen
Unterschied zwischen Handlungen, die
von außen erzwungen werden und
solchen, die dies nicht sind. Bleibt
die Frage, inwieweit die
„freien“, „autonomen“
Handlungen nicht doch ebenfalls
weitgehend „bedingt“ sind. Kant
ging davon aus, dass unser Verhalten
zwar einerseits durch empirisch
fassbare, physikalische, biologische
und andere Faktoren, sowie im Rahmen
der Kausalität zu erklären sei,
dass es aber darüber hinaus den
„intelligiblen“ Bereich der
Vernunft gebe, und nur von diesem
Standpunkt aus sei der Mensch frei,
indem er sich eben über die
„Sinnenwelt“ erhebe und von ihr
unabhängig mache. „Denn jetzt
sehen wir, dass, wenn wir uns als
frei denken, so versetzen wir uns
als Glieder in die Verstandeswelt
und erkennen die Autonomie des
Willens, samt ihrer Folge, der
Moralität.“ Das Thema
„Freiheit“ stand im Mittelpunkt
des Denkens von Kant. Er nannte sie
ein „unerhörtes Mysterium“, und
das Nachdenken darüber habe ihn aus
seinem „dogmatischen Schlummer“
geweckt. In einem Brief schrieb er:
„Der Mensch ist frei und dagegen:
es gibt keine Freiheit, alles ist
naturgesetzliche Notwendigkeit.“
Will heißen: Wir leben gleichzeitig
im Reich der Notwendigkeit und in
dem der Freiheit. Als
„Erhabenes“ sah er neben dem
Sternenhimmel als dem Reich der
Notwendigkeit das innere, moralische
Gesetz als Reich der Freiheit.
Die Frage des
„Determinismus“ wird schon sehr
lange kontrovers diskutiert, und
letztlich werden wir keine absolut gültigen
Erkenntnisse diesbezüglich
erlangen. Dass unsere „freien“
Entscheidungen mit größter Skepsis
zu beurteilen sind, dürfte aber
jedem klar sein, und dieser Umstand
sollte nicht nur bei der Frage der
Schuldfähigkeit von Belang sein,
wobei auch Zwischenstufen bez. der
Polarität „voll schuldfähig“
bis „nicht schuldfähig“ zu berücksichtigen
wären, sondern auch hinsichtlich
der subjektiven
Gewissensentscheidung des „Täters“:
inwieweit war er sich der
„Schuldhaftigkeit“ seines
Handelns bewusst, also nicht nur im
Hinblick auf die Normverletzung
sondern auch auf die persönliche
Einschätzung der Tat? Vor 1973 wäre
ein „Täter“ wegen eines
homosexuellen „Vergehens“ gemäß
§ 175 angeklagt worden und hätte
sich bei der „Tat“ durchaus der
Normübertretung bewusst sein müssen.
Gleichzeitig hätte er aber auf
seine Gewissensentscheidung und das
unbedingte „innere Gesetz“
pochen können, die ihm kein
schuldhaftes Verhalten attestierten.
Schon Sokrates berief sich auf sein
Gewissen und stellte es über den
Volkssouverän: "Seine
Weigerung, dem Volke seine Unterwürfigkeit
gegen dessen Macht zu bezeigen, führte
die Verurteilung zum Tode
herbei." (Hegel:
Vorlesungen über die Geschichte der
Philosophie, Band I, Leipzig 1982).
Heutzutage kann man den § 175
selbst als immoralisch ansehen, da
er gegen Grundrechte und die Achtung
des Menschen verstößt, wie auch
die „Nürnberger Gesetze“ zur
„Rassenschande“ im Dritten Reich
und die ähnlichen Apartheid-Gesetze
in Südafrika. Jemand, der sie übertrat
und dafür bestraft wurde, wird im
Nachhinein als Held angesehen. Natürlich
könnte man einwenden, dass sich
theoretisch jeder Straftäter, auch
ein Mörder und Erpresser, auf sein
Gewissen berufen könnte und es dann
schwierig wäre, das Gegenteil zu
beweisen. Das Tatmotiv wird aber
ohnehin schon berücksichtigt, etwa
wenn ein Vergehen „aus niederen
Beweggründen“ begangen wurde oder
„mildernde Umstände“ vorliegen,
wobei diese Begriffe natürlich
ebenfalls zu hinterfragen wären und
bei einer angenommenen tatsächlichen
Unfreiheit des Willens obsolet wären.
Wenn jemand in der Nachkriegszeit
Kohlen klaute, um heizen zu können,
so wurde dies sogar von hoher
kirchlicher Stelle aus als moralisch
gerechtfertigt angesehen, woraus
dann der Begriff „Fringsen“
entstand. Es waren ja hier
offensichtlich keine niederen
Instinkte im Spiel, sondern
existenzielle Bedürfnisse.
Eine
interessante rechtsphilosophische
Untersuchung zu dieser Thematik hat
Prof. Reinhard Merkel
2008 vorgestellt mit dem Titel
„Willensfreiheit und rechtliche
Schuld“. Er unterscheidet dort
Willensfreiheit und
Handlungsfreiheit. Letztere ist
ohnehin begrenzt schon durch die
Gesetze der Physik, etwa wenn wir
uns in die Luft erheben und womöglich
fliegen wollen, ohne Hilfsmittel,
macht uns die Schwerkraft einen
Strich durch die Rechnung. Es soll
zwar „Levitationen“ gegeben
haben, aber es handelte sich wohl
„nur“ um mystische Erfahrungen.
Man sagt ja auch „jemand hebt
ab“, in einem „Höhenflug“ der
Gedanken und Gefühle. Merkel kommt
zu dem Schluss, dass es wohl so sein
mag und er auch dahin tendiere, dass
die Willensfreiheit oder besser
Entscheidungsfreiheit oder
Selbstbestimmung nur eine Illusion
ist und man mit andern Philosophen
zu dem Schluss kommen könne, die
Willensfreiheit bleibe ein
Mysterium. Zu lösen sei aber das
Problem der Normverletzung und deren
„Reparatur“, ohne die eine
rechtsstaatliche Gesellschaft nicht
auskommen könne, solange nichts
Besseres gefunden wird. „Das
Strafrecht institutionalisiert die
reaktiven Einstellungen der
Rechtsgemeinschaft auf den Bruch
ihrer grundlegenden Normen.“ Ein
rein präventives Strafrecht wäre
insofern nicht ausreichend, also
wenn man den Täter nicht als
schuldig, sondern „nur“ als
krank und behandlungsbedürftig ansähe.
Ohne die Sanktion und somit die
Bestrafung komme man folglich nicht
aus. Man müsse aber den § 20 des
Strafgesetzbuches, der die Umstände
der Schuldunfähigkeit regelt,
dahingehend ändern, dass die
Voraussetzungen der normalen Schuldfähigkeit,
die im Wortlaut des Paragraphen nur
erschließbar sind, dahingehend neu
formuliert werden, dass der Täter
zum Tatzeitpunkt „normativ
ansprechbar“ gewesen war, im
Gegensatz etwa zu einem
Geisteskranken, der tatsächlich als
schuldunfähig anzusehen und somit
nicht zu verurteilen sei. Merkel räumt
ein, dass Normschutzerwägungen
utilitaristischer Provenienz seien,
aber dies wäre angesichts des hohen
Stellenwerts der Sicherung der
Normenordnung für unser
Gesellschaftssystem gerechtfertigt.
Der Staat sei der Garant der
Normgeltung und einer
Friedensordnung zwischen seinen Bürgern.
Anders gesagt: die Menschen müssen
versuchen, sich mittels des
Strafrechts voreinander zu schützen.
Dass ein Gesetz zur Farce werden und
die Autorität des Staates schwächen
kann, konnte man zur Zeit der
Prohibition in den USA beobachten.
Es war die Zeit der „Gesetzesspötter“,
denn es wurde sogar illegal Alkohol
ins Weiße Haus geliefert, und die
Mafia konnte sich freuen über
sagenhafte Gewinne!
Der eher
indeterministisch und
kompatibilistisch (Willensfreiheit
und Zuschreibung von
Verantwortlichkeit und Schuld wird
als kompatibel mit einer möglicherweise
deterministischen Weltordnung
angesehen) orientierte Psychiater
und forensische Gutachter Prof.
Hans-Ludwig Kröber
drückt es in Anlehnung an Kant so
aus: „Wir sind strafrechtlich
verantwortlich, wenn wir imstande
sind, unsere Entscheidungen von vernünftigen
Erwägungen abhängig zu machen,
wenn wir also imstande sind, unsere
Wünsche kritisch zu bewerten.“
Der Begriff „Verantwortung“
bringt nun noch ganz andere
Implikationen mit sich, über die
man natürlich nachdenken sollte und
die man nicht einfach beiseite
schieben darf. Ein schöner Satz
hierzu lautet: „Es wird uns nicht
zugerechnet, weil wir frei sind,
sondern wir sind frei, weil uns
zugerechnet wird.“ Einigung kann
vielleicht erzielt werden, wenn man
von einer „praktischen“
Verantwortung spricht. Zumindest
das bewusste und nicht psychotische
und nicht durch einen übermächtigen
Affekt überwältigte Ich kann
sinnvollerweise und aus
"taktischen" Gründen für
sein Handeln verantwortlich gemacht
werden, selbst wenn es letztlich gar
nichts dafür kann. Auch in der
Politik trägt letztlich der
Ressortchef die Verantwortung für
Dinge, die in seinem Ministerium
„verbockt“ worden sind, und muss
die Konsequenzen tragen, auch wenn
er selbst nicht direkt
„schuldig“ sein mag. Die
Verantwortlichkeit für unser
Handeln ist ein Grundprinzip der
Erziehung und impliziert auch die
Verantwortung für sich selbst.
Dieses ethische Prinzip scheint ein
Grundpfeiler unseres
gesellschaftlichen Zusammenlebens zu
sein und muss wohl unabhängig von
der Frage der Willensfreiheit und
Schuld betrachtet werden. Ausführlich
hat sich u.a. der Philosoph Michael
Pauen
mit der Thematik in mehreren
interessanten Büchern
auseinandergesetzt, zum Beispiel in
„Illusion Freiheit?“ (2005). Der
wissenschaftliche
„Determinismus“ und das Kausalitätsprinzip
gerieten ins Wanken durch die
Erkenntnisse der Quantenphysik, da
die Position von subatomaren
Teilchen vollständig indeterminiert
und zufällig ist. Einstein, der die
Erkenntnisse Heisenbergs nicht
leugnete, meinte aber bezüglich der
Übertragung auf das Thema
Willensfreiheit, falls der Mond ein
Bewusstsein hätte, wäre er überzeugt,
er ziehe seine Bahn auf eigene
Faust, auf der Grundlage einer
Entscheidung, die er ein für alle
Mal getroffen habe. Ein Wesen,
begabt mit höherer Intelligenz und
Einsicht, das die Menschen und ihr
Tun beobachtete, „würde lächeln
über ihre Illusion, sie handelten
im Einklang mit ihrem eigenen freien
Willen.“ Das Problem bei all
unserem Nachdenken über unseren
eigenen „Geist“, über unser
Bewusstsein und unser „Ich“, ist
der Umstand, dass wir sozusagen
„befangen“ sind, im System der
Untersuchung selbst drinstehend und
somit wohl auch nicht in der Lage,
es in all seinen Implikationen
verstehen zu können. Der Umstand,
dass wir uns selbst einen freien
Willen zuschreiben, ist
unbestreitbar ein wichtiger Aspekt
unseres menschlichen Selbstverständnisses,
und nur er gibt dem moralischen
Denken einen Sinn. Benjamin Libet
(1999) zitiert den Romancier Isaac
Bashevis Singer: “Das größte
Geschenk der Menschheit ist die
freie Wahl. Es ist richtig, dass wir
beim Gebrauch dieser freien Wahl
begrenzt sind. Aber das wenige an
freier Wahl, das wir haben, ist ein
solch großes Geschenk und ist
potentiell so viel wert, dass es
sich lohnt, gerade dafür zu
leben.“ Schon in der Schöpfungsgeschichte
wird ja die freie Wahl als ein
besonderes Geschenk Gottes an den
Menschen dargestellt, indem er vom
Baum der Erkenntnis zwar nicht essen
darf, es aber kann. Und die Schlange
lockt mit dem Versprechen „Ihr
werdet sein wie Gott und wissen was
gut und böse ist!“ Der „Sündenfall“
und die „Schuld“ sind demnach
nicht möglich ohne die Freiheit. Rüdiger
Safranski
meint diesbezüglich in seinem Buch
„Das Böse“ (1997), die
Geschichte habe so gesehen
angefangen als Strafe und sei etwas,
wozu man verurteilt werde. An
anderer Stelle („Wieviel Wahrheit
braucht der Mensch?“, 1993) weist
er darauf hin, dass es einerseits
den Blick von außen auf unser
Handeln gibt, der nach den Gesetzen
der Kausalität erfolgt, und
andererseits die „innere
Erfahrung“: „Im Augenblick der
Entscheidung, es ist der Augenblick
der Freiheit, ist jeder auf
eine abgründige Weise unbestimmt
und muss sich selbst bestimmen.“
Es sei die Angst vor der Freiheit
und der damit verbundenen
Verantwortung, die uns bereitwillig
annehmen lässt, wir seien gar nicht
frei. Freiheit habe auch mit der
Suche nach Wahrheit zu tun. Wenn man
sich eingestehe, dass bei jeder
Wahrheitsfindung und bei jeder
Wertentscheidung Freiheit im Spiel
ist, dann werde man entdecken, dass
in uns selbst eine wahrheitsbildende
Kraft vorhanden ist, und das bedeute
auch, dass man sich nicht mehr auf
eine absolute Wahrheit berufen kann,
was ebenfalls beängstigend ist. Das
angeblich Wahre, das wir als unwahr
erkannt haben, ist doch auf eine
gewisse Art und Weise „wahr“
oder zumindest seelisch wirksam! Die
Frage der Willensfreiheit gehört
wohl zu denen, auf die es letztlich
keine Antwort geben wird, und sie wäre
in ihrer Rätselhaftigkeit einer
Sphinx durchaus würdig.
Neuere
Forschungen von Kathleen D. Vohs and
Jonathan W. Schooler haben gezeigt, dass
Versuchspersonen, denen vorher
eingeredet wurde, dass es keinen
freien Willen gäbe, sich anschließend
„unverschämter“
verhielten als eine Kontrollgruppe
und gemogelt haben. Es scheint so zu
sein, dass Menschen zumindest die Überzeugung
einer vorhandenen Willensfreiheit
benötigen oder dass diese hilfreich
ist.
C. G. Jung
hat darauf hingewiesen („Die
Dynamik des Unbewussten“ 1995),
dass es keinen Bewusstseinsvorgang
gibt, der nicht in einer anderen
Hinsicht unbewusst wäre, und daraus
kann man schließen, dass auch unser
Verhalten immer von unbewussten
Einflüssen zumindest mitbestimmt
wird, in unterschiedlichem Ausmaß.
Er spricht von einer „relativen
Freiheit“, die einfach dadurch
gegeben ist, dass der Mensch im
Laufe seiner Evolution zu einem
bewussten Lebewesen wurde, eine
prometheische Errungenschaft, und er
dadurch die Möglichkeit erhielt,
sich auch gegen seine Instinkte und
die Archetypen zu entscheiden, sowie
im weiteren Sinn auch gegen die
kollektive Richtschnur. Der im
biblischen Bericht vom Sündenfall
beschriebene Akt der Erkenntnis und
der dadurch gegebenen
Unterscheidungsfähigkeit zwischen
Gut und Böse vermittelt in
symbolischer Form diesen
Entwicklungsschritt und das dadurch
aufgekommene Schuldbewusstsein.
Gleichzeitig erhielt der Mensch
somit quasi göttliche
Eigenschaften: „Ihr werdet sein
wie Gott!“
In „Aion“
(1976) weist Jung
aber gleichzeitig darauf hin, dass
manche unserer Entscheidungen derart
instinktgesteuert seien, dass sie
wie Naturkräfte („Acts of God“)
anzusehen sind, und nur nachträglich,
um den Eindruck einer moralischen
Niederlage zu vermeiden, vom
bewussten Ich als freie
Willensentscheidung hingestellt
werden. Der Sozialpsychologe John
Bargh
("Vor dem Denken", 2017)
verweist diesbezüglich auf bestätigende
Forschungsergebnisse, auf unsere Wünsche,
Ziele und Bedürfnisse, sowie das
damit verbundene Belohnungszentrum
im Gehirn, bei dessen Aktivierung
wir uns auch auf riskantes, gefährliches
oder gar schädliches Verhalten
einlassen. Wir sollten vorsichtig
sein hinsichtlich unserer Wünsche,
"denn sie können, ohne dass es
uns bewusst wäre, die Macht über
uns übernehmen.“ Diese Kräfte zu
kontrollieren, gelingt also nur
bedingt. Man kann sie unterdrücken,
aber sie kommen dann an anderer
Stelle und in veränderter Form zurück:
„In verwandelter Gestalt üb' ich
grimmige Gewalt.“ (Faust II) Dann
jedoch belastet mit einem
Ressentiment, und so kann die an
sich harmlose Naturkraft zu unserem
Feinde werden. Die individuelle
Willensfreiheit reicht demnach nur
bis an die Grenzen unseres persönlichen
Ich-Bewusstseins. In seinen
„Erinnerungen“ schreibt Jung:
„Man ist ein psychischer Ablauf,
den man nicht beherrscht, oder doch
nur zum Teil.“ Er meinte,
dass „gut“ und „böse“
nichts Absolutes seien, sondern
etwas Relatives, dass sie aber als
moralische Kategorien und Urteile
durchaus existieren und
psychologisch wirksam sind. Jenseits
des Menschen verlieren sie
allerdings ihre Bedeutung. Selbst
wenn wir uns hinsichtlich der
moralischen Bewertung unsicher sind,
müssen wir uns doch ethisch
entscheiden, wobei wir auf unser
Unbewusstes und unser innerstes
Wesen hören sollten: „Aber man
muss, so hart es klingen mag, die
Freiheit haben, das bekannte
moralisch Gute unter Umständen zu
vermeiden und das als Böse
anerkannte zu tun, sollte es die
ethische Entscheidung verlangen.“
Und: „Die Kraft des Lebens liegt
jenseits des moralischen Urteils.“
Es handelt sich um jene
schicksalbestimmende Kraft, welche
die Individuation erzwingt.
Hinsichtlich der psychologischen
Typen wird der extravertierte
Empiriker dem Prinzip der Kausalität
folgend eher deterministisch
eingestellt sein, während der
Introvertierte die innere Freiheit
und Unabhängigkeit bejahen wird,
was ihm gleichzeitig ein enormes
Machtgefühl verleiht. Jung weist
auch darauf hin, dass wir im
Affektzustand unfrei sind, getrieben
und genötigt von innen, im
Normalzustand hingegen frei.
Problematisch sei nur der
Normalzustand, wegen der Möglichkeit
der freien Wahl. Nicht in einem
Normalzustand waren die Teenager,
die 2011 den 15 Jahre alten Seath
Jackson in Florida in eine Falle
lockten, ihn schlugen, erschossen
und dann verbrannten, um anschließend
rund ums Feuer sitzend zu feiern.
Unklar blieb, ob Jacksons ebenfalls
fünfzehnjährige Ex die treibende
Kraft war oder deren neuer Freund.
Es gab eine Todesstrafe und
lebenslange Haftstrafen ohne Bewährung.
Wohl niemand erkannte, dass es sich
um die unbewusste Inszenierung eines
archaischen Opferrituals handelte.
Von einer archetypischen Vorstellung
besessen handelten die Jugendlichen
in einem rauschartigen Zustand. Ein
vollstrecktes Todesurteil ist
ebenfalls eine archaische
Opferhandlung. Allgemein wurde die
Tat als besonders grausam und
unmenschlich verurteilt, was in der
Serie „Killer Women“ von Piers
Morgan deutlich zum Ausdruck kommt.
Niemand hätte Verständnis dafür
gehabt, hier das jugendliche Alter
und den Ausnahmezustand, in dem sich
die Protagonisten zweifellos
befanden, in Betracht zu ziehen.
Auf alle Fälle
sollte man das „non liquet“
(nicht aufgelöst oder nicht klar)
in dieser Angelegenheit berücksichtigen
und damit gleichzeitig das „in
dubio pro reo“. Auch Anja
Schiemann
hat im Jahr 2012 in ihrer
Untersuchung „Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen“
auf die Problematik hingewiesen,
wieder mit anderen Akzenten.
Strafrechtler sollten jedenfalls
aufgrund eines verbleibenden
Unbehagens nicht ohne Schuldgefühle
sein. Sie waschen sich ja auch die Hände
in Bezug auf die Umsetzung der
Sanktionen im Strafvollzug, dessen
Geschichte Michel Foucault in seinem Werk „Überwachen
und Strafen“ eindrucksvoll
dargestellt hat. Hieß es früher,
die Rechte und die Integrität des
Souveräns seien durch die Gesetzesübertretung
verletzt worden und müssten durch
die Bestrafung wieder instand
gesetzt werden, so ist es heute die
„Rechtsgemeinschaft“, die dies
verlangt. Im Zuge der Aufklärung
wollte man eine Reform des
Strafvollzuges durchführen, und
zwar im Sinne einer angemessenen und
sinnvollen Sanktion, also etwa die
Wiedergutmachung eines Schadens oder
eine Dienstleistung für die
Gemeinschaft. Jede Tat und jeder Täter
sollten demnach spezifisch beurteilt
und verurteilt werden. Aus
praktischen Erwägungen wählte man
aber zumindest für schwerere
Vergehen den Freiheitsentzug in
einem Gefängnis oder Zuchthaus, und
auch das fortdauernde Bemühen um
eine Strafvollzugsreform hat nichts
daran geändert, dass sich dort ein
von den Gerichten weitgehend unabhängiger
Bereich von „despotischer
Disziplinierung“ (Foucault)
eingerichtet hat. Inzwischen wurde
insbesondere in den USA, zum
Beispiel vom Sozialwissenschaftler
Loic Wacquant
(„Bestrafen
der Armen: Zur neoliberalen
Regierung der sozialen
Unsicherheit.“ 2013) gezeigt,
dass die Strafjustiz darüber hinaus
ein politisches Instrument
darstellt, mit dem unterprivilegierte
Bevölkerungsschichten diszipliniert
und allgemeine Verunsicherungen
abgebaut werden sollen. Dies ist die
letzte Bastion des Staates, um sein
Machtmonopol zu demonstrieren! Im
Jugendstrafrecht versucht man
immerhin hierzulande, den
Freiheitsentzug etwa durch die
Ableistung von Arbeitsstunden zu
ersetzen, zumal man längst erkannt
hatte, dass die Gefängnisse
zumindest keine Besserung der Täter
herbeiführen. Mit ein wenig
Phantasie wird man es vielleicht
schaffen, die verschiedenen
Gesichtspunkte zu berücksichtigen,
auch den Schutz der Bevölkerung vor
wirklich gefährlichen Tätern, der
aber ebenfalls immer nur bedingt möglich
sein wird, um so einen einigermaßen
humanen und sinnvollen Strafvollzug
einzurichten und vielleicht auf
Bestrafung ganz zu verzichten, was
wiederum den Begriff
„Strafvollzug“ obsolet machte.
Erich Neumann bringt es auf den
Punkt: „Jede Justiz, die auf
Strafe aufgebaut ist, das heißt
nicht auf dem Wissen, dass das
Kollektiv im Schuldigen, der das Böse
tut, sich selber verschuldet hat und
an diesem Bösen mitschuldig ist,
ist nur eine getarnte Form der
Lynchjustiz.“ Im Grunde handle es
sich hierbei um eine Spielart der Sündenbockpsychologie,
die es dem Kollektiv erlaube, seine
Schattenseite in
institutionalisierter Form
auszutoben. Die „staatliche
Anerkennung des Unbewussten“ wird
aber wohl noch auf sich warten
lassen, schon aus dem Grund, dass
die Feststellung, wir seien
eigentlich nicht wirklich „Herr im
Haus“, eine narzisstische Kränkung
darstellt, ähnlich der Erkenntnis
von Darwin, dass der Mensch
lediglich eine höher entwickelte
Tierart sei. Dies gilt auch für die
Bevölkerung insgesamt, die aufgrund
des vorherrschenden
„Gerechtigkeitsgefühls“ sowohl
empört reagieren wird, wenn
Unschuldige verurteilt werden oder
wenn „Normale“ in die
Psychiatrie eingewiesen werden (der
Fall Gustl Mollath!), als auch wenn
„Schuldige“ freigesprochen
werden. Letzteres hängt dann mit
der Angst vor eigenen Triebdurchbrüchen
zusammen. Wenn der andere damit
durchkommt, dann kann ich es auch
tun. Über den Aspekt der
Abschreckung und Prävention wurde
hier nicht weiter eingegangen, aber
man weiß, dass zum Beispiel die
Todesstrafe nicht die erwünschte
Abschreckungswirkung erzielt, und
dies gilt möglicherweise auch für
andere Strafandrohungen. Der
Abschreckungsgrundsatz (Generalprävention)
sollte ohnehin nur noch sehr
eingeschränkt angewendet werden,
und zwar lediglich dann, wenn zuvor
bereits eine „gemeinschädliche“
Zunahme gleichartiger Straftaten zu
verzeichnen war. Ein junger Gefängnisdirektor
hat aufgrund seiner Erfahrungen ein
Buch veröffentlicht, in dem er für
die Abschaffung der Gefängnisse plädiert.
(Thomas Galli :
„Die Schwere der Schuld. Ein Gefängnisdirektor
erzählt.“ 2016) Und Kai Schlieter
zeigte in seiner
Recherche „Der Knastreport“
(2011), in welchem Ausmaß im
Strafvollzug Willkür und Renitenz
gegenüber von Gerichtsbeschlüssen,
sogar höchstrichterlichen, immer
wieder an den Tag gelegt wird. Von
Respekt gegenüber der Menschenwürde
und effizienter Resozialisierung ist
zudem wenig zu spüren! Der
Kriminologe Johannes Feest ,
ebenfalls ein Anhänger des
Abolitionismus, hat 2019 das „Manifest zur Abschaffung von Strafanstalten und anderen Gefängnissen“
veröffentlicht.
Noch ein Wort
zu den forensisch-psychiatrischen
Gutachtern, und das hier Ausgeführte
gilt analog für sonstige
psychiatrische und psychologische
Gutachter, und zwar hinsichtlich von
mutmaßlichen oder tatsächlichen
Straftätern. Falls es sich um Ärzte
handelt, können sie sehr schnell in
einen Konflikt geraten zwischen
ihrem ureigentlich ärztlichen
Auftrag, Leben zu erhalten und die
Gesundheit der ihnen anvertrauten
Menschen zu fördern (entsprechend
dem Hippokratischen Eid), und dem
Auftrag eines Gerichts, bezüglich
eines solchen Menschen Fragen zu
beantworten, wobei dies meist von
existenzieller Wichtigkeit für den
Betroffenen ist und seiner
Gesundheit und seinem Leben u. U.
sehr schaden kann. Es besteht die
Gefahr, dass der Gutachter, oft in
gewisser Weise abhängig von den
Aufträgen der Gerichte, von deren
Erwartungen mehr oder weniger
unbewusst geleitet wird und diese
auch verinnerlicht hat. In einer Art
von höherer „Staatsräson“
neigt er dann dazu, nicht mehr den
individuellen menschlichen und
gesundheitlichen Aspekt vordergründig
im Auge zu haben, sondern
irgendwelche Prinzipien, die
angeblich dem großen Ganzen
dienlich sein sollen. Knifflig wird
es in der Tat, wenn die Bedürfnisse
des Probanden abgewogen werden müssen
gegen den Anspruch der Gesellschaft,
vor wirklich gefährlichen Straftätern
oder psychisch Kranken geschützt zu
werden. Dabei wird der Arzt Angst
haben, bei einer im Nachhinein sich
als fehlerhaft erweisenden
Empfehlung seine Reputation zu
verlieren und wird entsprechende
Vorsicht walten lassen, oft zum
Nachteil des Betroffenen. Er wird
sich vielleicht auch von seiner persönlichen
Verantwortung zu entlasten suchen,
indem er darauf verweist, dass
letztlich ja die Gerichte
entscheiden und er nur Empfehlungen
ausspricht. Dabei wird aber nicht
berücksichtigt, dass die Gerichte
de facto den Gutachtern meist sehr
willig Folge leisten, da sie selbst
wiederum ihre Verantwortung
zumindest teilweise auf den
Gutachter abschieben können.
Schwierig wird es allerdings, wenn
mehrere Gutachten vorliegen, die
sich widersprechen, was nicht überraschen
sollte, da Kriminalprognosen eher
Kaffeesatzleserei als wirklich
wissenschaftlich begründbare
Voraussagen sind (siehe hierzu die
Studie von Michael Alex
von 2010). Tatsächlich verfügen
die Gutachter dennoch über sehr
viel Macht, die sie vielleicht allzu
gern ausüben und auskosten. So können
unbewusste sadistische Tendenzen und
Bedürfnisse nach Beherrschung von
Menschen ungestraft befriedigt
werden, und das Ganze wird auch noch
mit einer beträchtlichen Vergütung
und hohem gesellschaftlichen Ansehen
belohnt. Das Gleiche gilt übrigens
auch für Richter und Staatsanwälte
(siehe: „Der Verbrecher und seine
Richter. Ein psychoanalytischer
Einblick in die Welt der
Paragraphen“ von Franz Alexander
und Hugo Staub , 1971). Man sollte in
diesem Zusammenhang immer an die
mehr als zweifelhafte Rolle
von vielen Ärzten, Psychiatern und
Richtern im „Dritten Reich“
denken. Allzu leicht wurden sie zu
„Staatsbütteln“ oder gar
Vollstreckern und schoben ihre
Verantwortung von sich. Auch der
Begriff des „Befehlsnotstands“
gehört hierher.
„Richtet
nicht, auf dass ihr nicht gerichtet
werdet!“
(Matthäus 7,1)
5. Kastrationsangst und Angst
vor Zerstückelung
Beide sind
miteinander verbunden, und Ersteres
ist nur eine Sonderform des Zweiten.
Neueste psychologische Forschungen
haben gezeigt, dass die körperliche
Unversehrtheit ein sehr starkes
Motiv ist, und dass die unbewusste
Aktivierung der entsprechenden
Gehirnzentren unser Verhalten in
vielerlei Hinsicht beeinflusst
(siehe John Bargh
„Vor dem Denken." 2017). Wenn
Donald Trump große Angst vor
Krankheitskeimen hat und nur sehr
ungern Hände schüttelt, so ist
dies ebenso eine Folge dieser
Urangst vor Verletzung wie alle
Arten von Fremdenfeindlichkeit und
Rassismus. Stellte doch in früheren
Zeiten der Unbekannte meist eine
Bedrohung dar, und nur die eigene
Gruppe war einigermaßen vertrauenswürdig.
Tiefenpsychologisch
gesehen handelt es sich letztlich um
die Angst vor dem Tode, vor der
Vernichtung. Sigmund Freud sah die
Kastrationsangst im Zusammenhang mit
dem Ödipuskomplex, der beim Jungen
dazu führt, dass er sich vor der
Bestrafung durch den Vater fürchtet,
weil er die Mutter begehrt und für
sich haben will. Beim Mädchen
entstehe sie dadurch, dass sie das
Fehlen eines Penis unbewusst als die
Folge einer Kastration ansehe.
Jacques Lacan
entwickelte die Freudsche Theorie
weiter und bezeichnet die
„Kastrationsdrohung“, der das
Kind sich ausgesetzt fühlt, als
„Nein-des-Vaters“ (Wikipedia ).
Dieses Nein kann sowohl vom Vater
selbst als auch von anderen Personen
„Im-Namen-des-Vaters“
ausgesprochen werden. Da für Lacan
der Name-des-Vaters auch die Gesetze
der Gesellschaft repräsentiert, gehört
der „Kastrationskomplex“ der
symbolischen Ordnung an. Durch das
Nein des Vaters wird das Kind in die
symbolische Ordnung der Gesellschaft
und der Gesetze eingeführt. Lacan
bezeichnet die Kastration, die ja
meist nur eine angedrohte bleibt,
und die mit dieser Drohung
einhergehende Hinwendung zum
Symbolischen, deshalb auch als
„symbolische Kastration“. Mit
dem Eintritt ins Symbolische geht
die Kastrationsangst teilweise auf
das durch den Vater repräsentierte
Symbolische selbst, den „großen
Anderen“ über. Sie wäre also
auch Ausdruck der Angst vor Autoritäten,
vor der Staatsmacht und letztlich
vor Gott. Bei den australischen
Aborigines war es teilweise Brauch,
jungen Männern anlässlich der
Initiationsriten einen Eck- oder
Schneidezahn zu ziehen, was
einerseits eine Art Opferritual
darstellt, gleichzeitig aber ein
Kastrationssymbol ist und in der
Sicht Lacans diesen Übergang sowie
die Unterordnung zum Ausdruck
bringt.
Erich Neumann
(„Ursprungsgeschichte des
Bewusstseins“ 1974), ein
Jungianer, versteht die
Kastrationsangst nicht nur als
Beiwerk der ödipalen Triangulation,
sondern als ursprünglich verbunden
mit dem Archetypus der
„furchtbaren Erdmutter“, die zur
Befruchtung das Blut, den zerstückelten
Körper und den Phallus des
„Sohngeliebten“ als Opfer
einfordert. Nur so wird neues Leben
möglich, durch das Sterben und die
Wiederauferstehung oder
Wiedergeburt. Das Thema der
Zerstückelung taucht in der
Mythologie immer wieder auf, etwa
bei Dionysos, und hat eben mit
Opferung, Tod und Neugeburt zu tun.
Uranos, der Himmel in Göttergestalt,
von Gaia ohne Begattung
hervorgebracht, verbannte alle seine
Kinder in den Tartaros, was Gaia erzürnte.
Sie war es, die den Titanen Kronos
anstiftete, mit dem „grauen
Stahl“, einer gewaltigen Sichel,
den Vater zu entmannen. Aus dessen
Blutstropfen entstanden u. a. die
drei Erinnyen (Furien). Seither
verfolgen die Erinnyen jede
Verletzung mütterlicher Ansprüche,
selbst wenn diese nicht
gerechtfertigt sind. Aus dem Samen
des abgetrennten und ins Meer
gefallenen Geschlechtsteils entstand
die Liebesgöttin Aphrodite, die
Schaumgeborene. Aufgrund der
Kastration entstand also Gutes und
weniger Gutes!
Es handelt sich
um die matriarchale Frühstufe des
„Großen Weiblichen“ oder des
„Großen Runden“, dem
„Ouroboros“, der sich selbst in
den Schwanz beißenden Schlange,
sowie mit der Entmannung und Zerstückelung
des Sohngeliebten, dessen Blut und
dessen Phallus die große Erdgöttin
befruchten müssen, um neues Leben
hervorzubringen. Es geht um den
archetypischen Opfermythos, der in
der Vorzeit dazu führte, dass
Blutopfer, auch Menschen- und
Kinderopfer vollzogen wurden. Reste
davon finden sich in Beschneidungs-
und Genitalverstümmelungsriten.
Kriege sind ebenfalls eine
Aufrechterhaltung dieser
Opferrituale, bis in unsere Zeit!
Innerpsychisch kommt die Bedrohung
jeweils aus dem Unbewussten, und ihm
wird vom bewussten Ich das Opfer
dargebracht, in der Form der
Hingabe, der Selbstdarbringung. Im
Verlauf der Entwicklung gibt es eine
weitere Art der Kastration, eine
phallisch-chthonische, wobei es auch
zur Selbstentmannung kommen kann
(„Eunuchen für das Himmelreich“
Mt. 19,12), und schließlich noch
eine „obere Kastration“, die mit
dem oberen, „solaren“ Männlichen
zu tun hat und mythologisch mit dem
Verlust der Haare oder mit der
Blendung dargestellt wird. Die Überwindung
der Kastrationsangst ist
gleichzusetzen mit der Überwindung
der Mutterherrschaft.
All das hat
wenig zu tun mit der ödipalen
Triangulation, sondern eher mit der
ursprünglichen Vorherrschaft des
Weiblichen, des Unbewussten, der
„Großen Mutter“, mit der
Trennung von Erde und Himmel, sowie
mit der Entstehung des Bewusstseins,
des höheren Geistigen, Männlichen.
Man könnte also die Angst vor der
Kastration letztlich als Angst vor
der Überwältigung durch das
Unbewusste ansehen, als Angst vor
dem „Seelenverlust“, vor dem
„Seelentod“. Vor diesem
Hintergrund muss man auch den
Geschlechterkrieg und den Feminismus
ganz neu überdenken. Die Bedrohung
der Frau kommt nicht von der
angeblichen Vormachtstellung des
Mannes oder vom „Penisneid“,
sondern von der Bedrohung durch
einen möglichen Einbruch des
Unbewussten, der wiederum letztlich
mit der Angst vor der furchtbaren
Erd- und Todesmutter zu tun hat, und
dies gilt genau so für den Mann.
Manche Frau wird meinen, dass so
etwas nur von einem Mann stammen könne.
Es sei eine elegante Art und Weise,
das Problem vom Tisch zu bekommen
und aufzulösen oder gar den Spieß
herumzudrehen. Aber darum geht es
nicht! Das ist keine politische Überlegung
und hat mit der tatsächlichen
Benachteiligung von Frauen, die es
natürlich unbedingt zu beseitigen
gilt, nur am Rande zu tun. Es geht
um hypothetische unbewusste Vorgänge,
deren Aufhellung vielleicht zu einem
kreativeren Umgang mit den
manifesten Konfliktzonen zwischen
den Geschlechtern führen könnte!
Die ursprüngliche Vorherrschaft des
Weiblich-Mütterlichen und damit des
Matriarchats, wurde mit der Zeit
abgelöst durch das Patriarchat. Ein
notwendiger Vorgang, um die Dominanz
des Unbewussten zu überwinden, aber
auch ein Zeichen der Angst vor einer
erneuten Überflutung und Überwältigung
durch das Unbewusste. Die Geschichte
von der Sintflut hat symbolisch
damit zu tun, ungeachtet der von der
Menschheit tatsächlich erlebten
Flutkatastrophen. Inzwischen hat
sich, wie bereits dargelegt, die
Situation verschoben. Eine Überbewertung
des Geistig-Männlichen hat zu einer
Vernachlässigung oder gar Leugnung
des Unbewussten geführt. Hier wäre
ein Umdenken dringend nötig! Die
Analytische Psychologie setzt in
Anlehnung an C. G. Jung den
Schwerpunkt auf die Individuation,
also eine gelungene Integration des
Unbewussten ins Bewusstsein und
damit eine Re-Zentrierung und
Vervollständigung des Selbst. Das hört
sich einfach an, ist aber mit
erheblichen Mühen und einer langen
Wegstrecke verbunden. Es handelt
sich um einen Reifungs- und
Entwicklungsprozess, den viele
Menschen erst gar nicht oder kaum in
Angriff nehmen. Sie werden dadurch
auch eher zum Spielball von
archaischen Ängsten, Antrieben und
kollektiver Verblendung. Frauen und
Männer sollten also nicht
gegeneinander kämpfen, sondern
miteinander, hin zum höheren, großen,
ganzheitlichen Menschen, dem
Anthropos. Wir haben alle dieselbe
große Aufgabe: uns
weiterzuentwickeln, zu uns selbst zu
finden durch die Begegnung mit uns
selbst und mit dem andern, und uns
auf den unausweichlichen Tod
vorzubereiten. Natürlich gibt es
noch viele andere wichtige Aufgaben
zu bewältigen, kleinere und größere.
Eine Welt zu schaffen und zu
erhalten, in der es sich lohnt, zu
leben und in der es möglichst allen
gut geht, und nicht nur einigen
wenigen Privilegierten. Eine Welt
ohne Ungerechtigkeiten, Ausbeutung,
Unterdrückung, Krieg und Folter.
Die Angst vor
Zerstückelung oder Fragmentierung
wurde speziell von Heinz Kohut
theoretisch eingearbeitet in seine
Selbstpsychologie, einer
Weiterentwicklung der freudschen
Psychoanalyse. Er unterscheidet sie
von der Kastrationsangst und sieht
entwicklungspsychologisch einen
Beginn im frühen Säuglingsalter.
Die Angst vor der Fragmentierung
betrifft die Identität und die
Aufrechterhaltung eines sich vom
Nicht-Ich unterscheidenden und
vereinten Selbst, was durch die
Angst vor der Zerstörung seines
eigenen Körpers oder seiner eigenen
Psyche zum Ausdruck kommt. Ein
Fragmentierungsprozess könne
eintreten im Falle eines
destruktiven Umgangs der
Beziehungspersonen mit dem Kind und
sei als ein Schutzmechanismus zu
verstehen, um einen Zerfall, eine
Auflösung des Selbst zu verhindern,
der zur Psychose führen könnte.
Dieser Prozess könne deshalb auch
als eine Abwehrform und eine Überlebensstrategie
angesehen werden. Das Selbst fühle
sich in seinem Kern bedroht und
entwickle in der Folge
Selbstfragmente, sowohl auf der
Erlebens- als auf der
Handlungsebene, die nach außen als
Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten
in Erscheinung treten. In der
Therapie gelte es, diese
fragmentierten Selbstanteile als
Anpassungsleistung zu verstehen und
auf eine Integration hinzuarbeiten
(Karl-Heinz Brisch :
"Bindungstraumatisierungen:
Wenn Bindungspersonen zu Tätern
werden." 2016).
Aus
historischer Sicht fand die
Kastrationsangst schon lange bevor
sie wissenschaftlich thematisiert
wurde, ihren Ausdruck, und zwar
sowohl in den Mythen als auch im
Aberglauben. Jean Delumeau
hat in seiner Arbeit über die
„Angst im Abendland“ kollektive
Ängste in der Zeit vom 14. bis 18.
Jahrhundert beschrieben, dass
insbesondere im 16. und 17.
Jahrhundert die Angst vor dem
"Nestelknüpfen" sehr
verbreitet war, wobei es sich um
eine besondere Art der Hexerei und
einen Schadenzauber handelte. Man
befürchtete, dass es während der
Trauungszeremonie dazu käme, dass
der Ehegatte impotent oder steril
gemacht werden konnte, wenn eine
anwesende Hexe heimlich ein Band
verknotete. Die Vorstellung
entstammte der damals üblichen
Technik des Kastrierens von männlichen
Tieren, indem man die Hoden mit
einem Stück Hanf abband. Es
handelte sich demnach nicht wirklich
um die Angst vor Impotenz oder
Unfruchtbarkeit, sondern vielmehr um
Kastrationsangst. Man versuchte, dem
zu entgehen, indem man heimlich in
einer anderen Gemeinde heiratete
oder nicht bei Tageslicht, sondern
nachts. Außerdem gab es eine ganze
Reihe von Ritualen und Exorzismen
als Gegenzauber. Natürlich reiht
sich diese Besonderheit ein in die
damaligen Ängste vor Hexerei und
Zauberei, vor dem Teufel und bösen
Geistern., die im Hexenwahn und der
Inquisition ihren grausigen Höhepunkt
fanden.
Angst ist nicht
nur etwas Schlechtes, außer sie
nimmt
überhand und lähmt uns,
schränkt uns übermäßig ein,
macht uns duckmäuserisch. Sie hat
Signalwirkung, soll
uns vor Gefahren
warnen oder uns auf ungelöste
innere Konflikte aufmerksam machen.
Sie kann ein Antrieb sein, sich nach
innen zu wenden, um die scheinbar
irrationalen Ängste, etwa vor
Spinnen, besser zu verstehen. Das
Symbol ist ein erster Fingerzeig aus
dem Unbewussten und weist uns den
Weg: S. Freud sah die Spinne als
Symbol des weiblichen Genitales. Sie
könnte also mit der Sexualität
zusammenhängen, mit dem Weiblichen.
Das Spinnen hat aber auch zu tun mit
dem Schicksal: es gibt die Große
Weberin, die unseren Schicksalsfaden
spinnt. Eine der Moiren schneidet
den Faden irgendwann ab, auch ein
Kastrationssymbol. Spielt also die
Angst vor der Zukunft eine Rolle und
vor dem, was sie für uns bereit hält,
auch das Ende? Die "alte
Spinnenfrau" spielt eine
wichtige, positive Rolle in
indianischen Schöpfungsmythen und Märchen,
etwa bei den Hopi. Die Spinne ist
ein Gliederfüßler, der Fallen
stellt und Insekten einfängt mit
einem kunstvoll gewobenen Netz. Sie
hat einen Giftstachel, mit dem sie
das Opfer lähmt und tötet, bevor
sie es aussaugt, wie ein Vampir.
Weckt die Spinne also Ängste, in
eine Falle zu tappen, sich zu
verstricken in etwas
Unausweichliches? Gelähmt und getötet,
ausgesaugt zu werden? Ängste, die
wohl in jeder Liebesbeziehung mit
eine Rolle spielen, da wir in ihr
einen Teil unserer Autonomie
aufgeben, vor allem beim Liebesakt.
Dazu passend die Fantasie von den
Spinnenweibchen, die das Männchen
nach der Begattung auffressen. Der
Mohr hat seine Schuldigkeit getan!
In Träumen
kann das Kastrationsthema in ganz
unterschiedlicher Form auftreten.
Die Gefangenschaft etwa gehört wie
der Verlust der Haare und die
Blendung (Ödipus, Simson, Horus)
symbolisch zur „oberen
Kastration“ und hat mit dem
„oberen Männlichen“ zu tun, wie
bereits erwähnt. Sie ist meist
nichts Endgültiges, sondern endet
mit der Befreiung und dem Sieg!
Abgeschlagene,
abgetrennte Körperteile, jede Art
von Verstümmelung und Zerstückelung,
Unfälle gehören hierher.
Hundebisse und sonstige Angriffe
durch Tiere mit scharfen Zähnen.
Freud bezeichnete Träume vom
Verlust eines Zahnes als typische
Kastrationsträume. Zahnarztträume
sah er als Ausdruck homoerotischer Wünsche,
aber ich vermute, dass sie meist
Kastrationsträume sind. Aus akutem
Anlass und einem schmerzenden und
mehrfach behandelten Zahn ging es
bei mir in einem eigenen Traum zum
Beispiel darum, dass ich mit einem
schmerzenden und wackeligen Zahn zum
Zahnarzt ging. Als ich diesen Traum
meinem damaligen Therapeuten erzählte,
wurde ich an dieser Stelle schon
unterbrochen, und er meinte,
dass nun er den Zahn ziehen sollte.
Ich hatte den Traum nämlich
teilweise bereits selbst gedeutet
und den Zahnarzt mit dem Therapeuten
gleichgesetzt. Aber der Traum
verlief ganz anders! Ich hatte mir
den Zahn selbst gezogen und zeigte
ihn dem Zahnarzt (Therapeuten). Der
meinte dann, er könne das schon
hinkriegen und den Zahn wieder
einsetzen. Dahinter steckte also der
Wunsch, der Therapeut könnte mir
dabei helfen, das Problem zu lösen.
Die Frage war, ob dies darin
besteht, den Zahn zu ziehen oder
darin, ihn wieder einzusetzen. Im
Traum war es das Wiedereinpflanzen,
also die Reparatur, nicht aber die
radikale Lösung!
Träumt man
davon, dass in der eigenen Wohnung
oder im Haus Schäden entstanden
sind, so hat dies meist auch mit
unserem Thema zu tun, da es sich um
Selbstsymbole handelt. Fahrzeuge
sind oft phallische Symbole, aber
auch Libido- (Libido im Sinne von
psychischer Energie) und
Selbstsymbole. Kommen Fahrzeuge also
abhanden oder werden beschädigt,
fehlen Teile, so verweist dies auf
Kastrationsängste. In einem meiner
Träume ging es um mein Auto: Ich
parke, steige aus, und plötzlich
verwandelt sich der Wagen in ein
Moped. Beim Schließen des
Benzinhahns fällt dieser runter,
und ich befürchte, dass er ins
Wasser nebendran fällt, was aber
nicht passiert. Dann sehe ich zwei
Jungen, die einen schweren Stein auf
ein Auto zurollen und dessen Tür
beschädigen. Ich laufe ihnen
hinterher und sage, dass ich ihre
Eltern informieren werde, aber sie
versuchen, mich zu überzeugen, dies
nicht zu tun. Ich zögere und denke
an einen sehr strengen Vater, der
sie misshandeln könnte. Und dass
der entstandene Schaden von der
Versicherung bezahlt werde.
Es gab Zeiten
ohne Auto in meinem Leben. Erst war
es lange das Fahrrad in der
Jugendzeit, dann das Moped oder
kleinere Motorräder. Im Traum
findet also eine Rückkehr in die
Vorautozeit statt, und ich muss mich
wieder mit dem Benzinhahn befassen,
der natürlich ein schönes Symbol für
das Genitale ist, zumal er hier auch
noch abfällt. Er soll nicht ins
Wasser fallen, was vordergründig
aus Umweltgründen motiviert sein könnte,
symbolisch aber mit der Welt des Mütterlichen
zu tun hat. Die Gefahr ginge ja auch
weniger vom Hahn aus, sondern vom
evt. aus der Leitung fließenden
Treibstoff. Dann geht es um ein
anderes Auto und auch wieder um die
Besorgnis wegen eines entstehenden
Schadens, der nicht mehr zu
verhindern ist. Man kann aber die
„bösen Buben“ zur Rechenschaft
ziehen und droht ihnen, die Eltern
zu benachrichtigen. Aus Rücksicht
auf einen möglicherweise gewalttätigen
Vater unterlässt man dies jedoch
und vertraut auf die
KfZ-Versicherung. Der Steinbrocken
erinnert an etwas Gewichtiges und
Festes, aber auch an Sisyphos, der
einen Felsblock immer wieder einen
Berg hinauftragen musste, und an
Camus, der herausfand, dass im
scheinbar Absurden doch noch ein
Sinn und sogar Glück verborgen
liegen können, denn der Mann hat
Zeit, um über Gott und die Welt und
über sich selbst nachzudenken, also
zu philosophieren. „Man muss sich
vorstellen, dass Sisyphos glücklich
war.“ Das Rollen gegen die Wagentür
im Traum erscheint gleichfalls als
etwas Unsinniges, aber
Knabenstreiche haben oft so etwas an
sich. Da hilft nur Erziehung, aber
besser nicht mit Brachialgewalt! Die
Angst vor einem allzu strengen Vater
taucht auf. Vielleicht war ja die
Aktion der Knaben eine Art
symbolische Bestrafung ihres gewalttätigen
oder verantwortungslosen Vaters und
hätte so doch noch einen wenn auch
verborgenen Sinn. (Siehe:
„Analyseträume“, 2014, von
Walter Pollak )
Es handelte
sich um eine „freudianische“
Analyse, und wie zu erwarten war die
Traumsymbolik teilweise
dementsprechend, aber schon damals
enthielt der Traum zudem
mythologische und archetypische
Elemente!
Traumbilder
entstammen dem Unbewussten, und S.
Freud meinte, sie seien der „Königsweg“
dorthin. In früheren Zeiten glaubte
man, die Träume sagten die Zukunft
voraus. Heute weiß man, dass sie
dies nicht tun, aber sie können uns
wertvolle Hinweise geben, wie die
"innere Stimme", und sie
ermöglichen den Zugang zum
Unbewussten. Ihre Deutung ist
schwierig, da Traumsymbole
mehrdeutig sind. Man sollte immer
auch die Einfälle zum Traum des
jeweiligen Träumers beachten, falls
verfügbar. Für das Volk der Xhosa
in Südafrika hatten Träume eine
große Bedeutung, und sie meinten,
dass sie zwischen dieser Welt und
dem Jenseits vermitteln. Wenn man
statt Jenseits das Unbewusste
einsetzt, so haben wir das, was C.
G. Jung die „transzendente
Funktion" nannte.
Und so ist
dieses Kapitel auch eines über Träume
geworden, wenn auch mit dem
Schwerpunktthema Kastration.
Über den Autor
Der Autor ist
ausgebildet als Psychoanalytiker und
Psychotherapeut. Er hat im Ausland
studiert und dort zunächst
praktiziert, kam mit 40 nach
Deutschland. Dort war er lange als
klinischer Psychologe in einer
Kinderklinik tätig, bevor er sich
in eigener Praxis niederließ.
Mittlerweile ist er im Ruhestand. Er
war zunächst
"Freudianer", hat sich
aber zwischenzeitlich
"bekehrt" zum
"Jungianer", wobei man
aber sagen muss, dass er schon immer
ein eigenständiges Denken und
Handeln bevorzugte. Sein Interesse
galt nicht nur der Psychologie,
sondern auch der Philosophie, der
Geschichte, der Ethologie und den
Religionswissenschaften.
C.
G. Jung: "Aion - Beiträge
zur Symbolik des Selbst:
Gesammelte Werke 9/2" 2011
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