Traum eines 10-jährigen Jungen

 

 

1. Traum

Der Junge wurde aus der Kinderklinik entlassen, wo er wegen immer wieder auftretender Bauch- und Kopfschmerzen war, die aber keine organische Ursache hatten. Er war deswegen auch zur psychologischen Untersuchung vorgestellt worden und kam anschließend ambulant zur weiteren Betreuung. Er erzählte dann folgenden Traum, den er nach dem Klinikaufenthalt hatte:

Er befindet sich im Krankenhaus, und die Ärztin sagt ihm bei der Entlassung, er sei sehr krank und habe nicht mehr lange zu leben. Die Eltern weinen sehr, nur der ältere Bruder nicht. Der Junge meinte dazu: Wenn es wirklich so wäre, würde er die Tage nutzen, um sich von allen zu verabschieden.

Psychologischer Hintergrund und Deutung:

Der Junge klagte häufig über Bauchweh und Kopfweh. Wenn er krank ist, zeigt er sich ruhig, brav, antriebsschwach und eher depressiv. 

Geht es ihm dagegen gut, sei er unruhig und aufgedreht. Allgemein sei der Junge sehr empfindlich. Vor allem auf Belastungen in der Schule reagiere er mit körperlichen Symptomen. 

Ein Schlüssel zum Verständnis der Symptome des Jungen liegt vermutlich in der Tatsache, dass bei seiner Geburt zeitgleich der Großvater mütterlicherseits starb. Die Freude über seine Ankunft wurde stark getrübt durch die Trauer der Mutter und der Großmutter wegen des Vaters. Er übernahm wohl in der Folge eine tröstende und stützende Funktion für die Mutter und die Großmutter. Vermutlich überforderte dies seine Kräfte, und er entwickelte die beschriebenen Symptome und Krankheiten, mit einem sekundären Gewinn. So erhielt er ebenfalls die erforderliche Zuwendung und Tröstung. 

Der Traum hat auch mit dem Sterben zu tun, aber nun mit seinem eigenen. Die Mutter des Jungen gab spontan eine Deutung, die sicher etwas Richtiges enthält. Sie meinte, der Junge wolle seine Krankheiten endgültig los sein. Der Tod wäre eine solche Möglichkeit, so wie sich mancher schwer Leidende den Tod als Erlösung herbeisehnen wird. Tod hat symbolisch aber immer etwas mit Ablösung zu tun, und man könnte sich auch vorstellen, dass dieser Junge besondere Probleme damit hat, sich von seinen Eltern, besonders von der Mutter und der Großmutter innerlich zu lösen. Der Traum brächte so den Wunsch zum Ausdruck, diese Ablösung zu vollziehen. 

 

Dieser Traum kann einen aber auch erinnern an die Geschichte von Marc Twain in "Tom Sawyer und Huckleberry Finn" : die beiden sind abgehauen, werden vermisst und schließlich für tot gehalten, nachdem man den ganzen Fluss nach ihnen abgesucht hat. Die Jungs schleichen sich nun heimlich in die Nähe ihres Hauses und bekommen mit, wie die Familie um sie trauert. Noch nie haben sie gehört, dass so lieb von ihnen geredet wird und sind ganz ergriffen über ihr eigenes Dahinscheiden. 

Man kann also auch seinen eigenen Tod in der Fantasie durchspielen und sich vorstellen, wie die lieben Angehörigen darauf reagieren werden. Nach dem Motto: Wartet nur, wenn ich mal nicht mehr bin, werdet Ihr sehen, was Ihr an mir hattet! 

Zu deuten wäre noch ein Element des Traumes, das sich auf den Bruder des Jungen bezieht. Er weint nicht über den bevorstehenden Tod des Bruders. Würde er sich vielleicht freuen, wenn er nicht mehr da wäre? So kann man im Traum auch ihm eins auswischen und Gefühllosigkeit unterstellen.

 

2. Traum des 10-jährigen Jungen:

Derselbe Junge erzählte wenig später den folgenden Traum:

Er sei wegen irgendwas zum Tode verurteilt worden, sei aber unschuldig, und man habe ihm den Kopf abgeschlagen. Beim Aufwachen sei er froh gewesen, dass noch alles dran war.

Psychologischer Hintergrund und Deutung:

Ein solcher Traum hat wohl immer mit Schuldgefühlen und einem dazugehörigem Bestrafungsbedürfnis zu tun. Er fühlt sich zwar unschuldig, aber irgendeine Instanz verurteilt ihn, und zwar sogar zum Tode. Der Anlass bleibt allerdings im Dunkeln. Das Kopfabschlagen kann symbolisch eine Kastration darstellen, und es besteht hier möglicherweise ein Zusammenhang damit, dass die Eltern, nachdem sie schon einen Jungen hatten, beim zweiten Kind sich ein Mädchen wünschten. Seine "Schuld" könnte also darin bestehen, dass er ein Junge ist und kein Mädchen, und eine Kastration wäre die Möglichkeit, dies zu korrigieren. Gleichzeitig ist er natürlich unschuldig, da er ja keine Wahl hatte. Auf subtile Weise hat der Junge aber schon frühzeitig mitbekommen, dass die Eltern lieber ein Mädchen gehabt hätten. Die Mutter erzählte auch, dass er sehr empfindsam und mädchenhaft sei, was ebenfalls in diese Richtung weist. Kinder versuchen unbewusst, sich dem Wunsch ihrer Eltern anzupassen. Man kann bei dem Jungen von einer ängstlich-depressiven Entwicklung mit Somatisierungen und gelegentlicher manischer Abwehr ausgehen. Die Trennung durch den Krankenhausaufenthalt bedeutete eine Überlastung und überforderte seine Fähigkeiten zur Symbolisierung. Trennung wurde mit Tod gleichgesetzt. Der Junge muss seine jungenhaften Aggressionen verbergen und fürchtet, ansonsten kastriert zu werden, weil sich die Mutter vor ihnen fürchtet.

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